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„Nun, sind Sie auch da? Ich hatte mir's allerdings denken können; ein alter Politikus darf bei solchen Gelegenheiten nicht fehlen, wenn er auch weiß, daß er wider den Strich gebürstet werden wird.“

„Freilich muß ich mir die Komödie mit ansehen; ich dachte schon, ich würde keinen Platz finden, denn ich habe bis zum letzten Augenblick zu Hause Stimmzettel geschrieben. Unsere sind ja auf den ersten Blick am Format und an der Farbe kenntlich; da habe ich denn Schreibpapier genommen, das täuschend so aussieht, wie das Papier der Bismarck-Zettel, und habe sie nach dem Format derselben zugeschnitten und sie mit dem richtigen Namen versehen, und mit diesen Zetteln helfe ich Bekannten aus, die sonst nicht wagen würden, nach ihrer Ueberzeugung zu stimmen. Sie machen doch dasselbe Manöver?“

„Man sollte das eigentlich immer thun, schon um den Herren das Konzept zu verderben und sie an der Nase herumzuführen, doch vielleicht paßt mir's diesmal, dumm-ehrlich zu sein. Wir sehen uns, denke ich, noch einmal.“

Er stieß später auch auf die beiden Alfrede; der Dicke schimpfte über die „wahnsinnige“ Hitze auf der Galerie und klagte über Ohrensausen, und als Wolfgang lächelnd sagte:

„Aha, Sie brauchen einen Vorwand, sich aus dem Staube zu machen, um in der Konditorei mit der neuen Mamsell zu plaudern, statt hier heftige Debatten über den Syllabus und die Maigesetze mit anzuhören?“ erwiderte er mit dem freundlichsten Gesicht der Welt und leisem Augenzwinkern:

„Aber doch ein Kapitalmädel, nicht wahr? Ein reizendes, naives Kind! Uebrigens habe ich aus Rügenwalde Gans in Gelé, Gänsebrüste und deliziöses Gänseschmalz bezogen: nächste Woche giebt's ein kleines Souper, das sich gewaschen hat.“

Der Lange meinte mit komischem Pathos: „Herrgott, Mensch, sind wir denn nicht in einer Wahlversammlung und sind nicht die Augen Europas erwartungsvoll auf uns gerichtet?“

Als aber Wolfgang fragte: „Nun, und wie denken Sie den Erwartungen Europas zu entsprechen, alter wissenschaftlicher Materialist?“, da bekam er ein ziemlich kleinlautes:

„Ja, das ist eine schlimme Geschichte. Nationalliberal kann ich nicht mehr, sozialistisch mag ich noch nicht stimmen und einen Fortschrittler, den man anständigerweise als Uebergang wählen könnte, haben sie nicht ausgestellt!“ zur Antwort.

Wolfgang lächelte, grüßte mit einer Handbewegung und setzte seinen Rundgang fort, um sich dann in den Saal hinabzubegeben. Er hatte seinen Chef, der Kassierer des nationalliberalen Wahlkomitees war, entdeckt und in seinem Auge blitzte es wie eine Flamme auf, nur für eine Sekunde, aber wer den halb düstern, halb ironischen Blick aufgefangen hätte, mit dem er, die Arme auf der Brüstung, das Meer von Köpfen überflog, dem wäre er sicherlich aufgefallen. Mit einiger Mühe drängte er sich bis zu dem Platze Herrn Reischachs durch; er wartete eine Pause

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_199.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)