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fort bin. Vielleicht sehen wir uns auf dem Bahnhof noch einmal - ja? Das wäre jedenfalls das sicherste.“

Die Kleine nickte nur, es schwoll ihr wie von verschluckten Thränen in die Kehle, und sie hätte kein Wort über die Lippen gebracht; der Gedanke, daß ihr Lebensretter so plötzlich fort wolle, und daß sie ihn vielleicht nie wiedersehe, machte sie sehr traurig. Dennoch hatte sie einen Blick auf die Adresse des ziemlich umfangreichen Briefes geworfen, den ihr Wolfgang einhändigte, und es entging ihr nicht, daß der junge Mann unter dem überraschten Blick, den sie ihm unwillkürlich zuwarf, leicht errötete und sich abwendete. — „An Fräulein Martha?“ fragte sie und versuchte durch den Ton dieser Frage anzudeuten, daß der Brief wohl sehr willkommen sein werde.

Wolfgang nahm alle Kraft zusammen und sagte leichthin:

„An dieselbe. Ich habe eine Rechnung mit ihr ins Gleiche zu bringen, und ehe man abreist, macht man gern alle alten Schulden glatt.“

„Aber ich kann ihr den Brief ja gleich heute geben.“

„Das eben soll nicht sein und das dürfen Sie um keinen Preis thun. Vierundzwanzig Stunden nach meiner Abreise keine Minute früher. Eben weil ich überzeugt war, daß Sie sich mit der peinlichsten Genauigkeit an meine Vorschrift halten würden, habe ich mich an Sie gewendet; können oder wollen Sie mir nicht mit Hand und Mund versprechen, den Brief solange als gar nicht vorhanden anzusehen, so geben Sie mir ihn lieber wieder. Ich habe ganz bestimmte, sehr ernste und gute Gründe, zu wünschen, daß es so gehalten werde, und wenn Sie mich im Stiche lassen, so muß ich mich eben der Post anvertrauen oder auf einen anderen Ausweg sinnen.“

„Nein, Herr Hammer, den Kummer werden Sie mir doch nicht machen!? Hier ist meine Hand; ich hüte den Brief, wie meinen Augapfel, und erst vierundzwanzig Stunden und eine Minute, nachdem ich Sie mit eigenen Augen habe davonfahren sehen, soll er an seine Adresse gelangen. Wissen Sie denn aber auch, daß Fräulein Martha seit einer Reihe von Tagen schon das Zimmer hütet und immer allein sein will? Sie hat sich, scheint es, stark erkältet, aber — sie kommt mir auch sehr traurig vor, und wenn sie mit jemanden spricht, ist es immer, als dächte sie an etwas ganz anderes und als müßte sie sich jedes Wort erst abkaufen. Und kein Mensch hat eine Ahnung, was ihr fehlt, und wenn Fräulein Emmy sie danach fragt, so versucht sie, zu lächeln und sagt, ihr fehle weiter nichts, als Ruhe, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unbeschreiblich traurig dieses Lächeln ist. Mir giebt es jedesmal einen Stich ins Herz, und sie ist so gut und hat mich immer behandelt, als wäre ich nicht eine Untergebene, sondern eine Bekannte; sie befiehlt nie, immer bittet sie. Aber ich ginge auch durchs Feuer für sie — gerade wie für Sie.“

Wolfgang hatte in dem Moment, in welchem Anna die Krankheit Marthas erwähnte, ihre Hand, die er lebhaft ergriffen hatte, um sie herzhaft zu schütteln, fahren lassen. Er versuchte vergebens, die Herrschaft über sich zu behaupten und es klang sehr gezwungen, als er endlich sagte:

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_194.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)