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jede Empfindung und jeden Gedanken färbten, Du wirst also gut thun, anzunehmen, daß meine Epistel um eine Nüance heller ausfiele, wenn die äußeren Umstände weniger mit meiner krittlichen Grundrichtung in Einklang stünden.

Alles in allem bleibt mir schon nichts weiter übrig, als Dir zu sagen: „Charlie, mein Junge, ich glaube, ich habe mich eines argen Rechenfehlers schuldig gemacht und bin in eine Falle gegangen.“

Der Rechenfehler besteht darin, daß ich die Stellung in Deutschland annahm, weil ich ein tiefes Bedürfnis empfand, mich zu isolieren und Ruhe zu haben, und daß ich die Möglichkeit der Isolierung und die Ruhe in Deutschland zu finden hoffte. Du hast allerdings den Kopf geschüttelt und gesagt: „Das sind Luftschlösser. Du freilich kämst niemandem zu nahe und zögst Dich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück; Du vergräbst Dich in Deine Bücher und bist am zufriedensten, wenn Wochenschriften und Monatshefte Deine einzigen Besucher sind; Du liegst tagelang im Walde und stöberst allerlei Kraut und allerlei kriechendes und fliegendes Getier auf, von dessen Vorhandensein andere Menschenkinder keine blasse Ahnung haben, und kannst Du vollends einen Garten haben, so sind Dir rote Bohnenblüten und Tigerlilien die liebsten Gesellschafter — aber meinst Du denn wirklich, die Menschen werden Dich in Ruhe lassen? Sie würden nichts ausrichten, wenn sie Dir etwas böten, aber sie werden Rat und Hilfe von Dir verlangen, und Du hast noch nicht gelernt, etwas abzuschlagen und wirst Dich bald in ein Netz von Gefälligkeiten verstrickt sehen, das Dich auf Schritt und Tritt hemmt, vorausgesetzt noch, daß Du damit wegkommst und daß es Dir nicht etwa schlimmer geht.“ Ich lachte, machte Dir ein Kompliment über den Scharfsinn, mit dem Du Deinen Freund Wolfgang beurteilst, ging aber doch. Und nun sitze ich hier und habe das unabweisliche Vorgefühl, daß ich mich über kurz oder lang in Kämpfe verwickelt sehe, über deren Natur ich noch vollständig im unklaren bin, in denen ich aber, bei meiner Unfähigkeit, Hammer zu sein (ich bin ersichtlich heute schlecht disponiert, denn die Wort- und Namenwitze sind die längst bis aufs letzte magere Hälmchen abgeweidete Domäne der Juden), sicherlich Amboß sein werde — und das ist eben keine erbauliche Aussicht.

Du bist ein Pessimist in Bezug auf alle Welt, nur in Bezug auf mich nicht; Du wirst Dir also wahrscheinlich aus den Aeußerungen von Mißbehagen, die ich Dir zu Gehör gebe, früher als ich die mutmaßliche Natur der Verwicklungen konstruieren, die das Ende vom Lied sein werden und in denen für mich nichts zu holen ist, wenn ich auch den Einklang mit mir selber nicht verlieren und den „Schild der Ehre“ fleckenlos davon tragen werde. Du nickst und sagst lächelnd: „Das weiß ich, mein Junge!“?

Es ließe sich ganz gut hier leben, wenn nicht auch hier so viele Karikaturen der edlen Gestalt „Mensch“ herumliefen, noch dazu mit den ungeheuerlichsten Prätensionen und ohne ein Fünkchen Bewußtsein von

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_19.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)