Seite:Ein verlorener Posten 187.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

starrte, Prouds Kopf auf seinem Knie, in die knisternde Glut und auf das irre, hastige, zuckende Spiel der roten Lichter, die das Feuer an die Wand warf, und der Schlag der Mitternachsstunde, das Krachen von Schüssen und das Schreien und Lärmen auf den Straßen schreckte ihn aus tiefem, schweren Sinnen auf. Auf dem Tische lag das Heftchen mit all den Liedern, denen die thörichte Neigung zu Martha Hoyer das Leben gegeben hatte; er hatte die Eindrücke des vergangenen Jahres symbolisch von sich abschütteln wollen, indem er dieses Heft den Flammen übergab, aber nun — und das war die Frucht seines Sinnens — stand er langsam auf und schloß das arme, kleine Heft wieder in den Schreibtisch. Was hatten schließlich die kleinen Lieder verbrochen, womit hatten sie es verdient, den Flammentod zu erleiden? War die Neigung, von der sie redeten und flüsterten, wie trostlos sie auch enttäuscht und zum Traum eines Poetenherzens verflüchtigt ward, nicht echt und tief und schön gewesen? Er brauchte sie ja nie wieder anzusehen, aber mußten sie darum vernichtet werden? Vielleicht erhielten sie in späteren Jahren erhöhten Wert, als die einzigen glaubwürdigen und unangreifbaren Zeugen, die über eine verworrene Periode seines Lebens Auskunft geben könnten und die er dann am Ende gar mit verwundertem, beinahe ungläubigem Kopfschütteln anhörte, ohne sich ihren Aussagen verschließen zu können. Sie mußten also aufbewahrt werden. Die Erinnerung ist eine arge und systematische Betrügerin, die uns ihre gefälschten und entstellten Berichte so lange wiederholt, bis wir ihr schließlich Glauben schenken, und wenigstens über den großen Herzensirrtum seines Lebens sollte sie ihm nichts vorflunkern können; mit dem kleinen Heft in der Hand konnte er ihr jede Fälschung nachweisen.

Wolfgang wußte längst, daß wir viel weniger Irrtümer und Fehlgriffe zu beklagen hätten, wenn wir uns nur daran gewöhnen könnten, nicht immer unseren ersten Impulsen und den Aufwallungen der Leidenschaft zu gehorchen; nie aber wurde ihm ein schlagenderer Beweis für die Unzuverlässigkeit dieser ersten Regungen geliefert, als in den Wochen, die der unseligen Scene im Comptoir folgten. Wie viele Wandlungen machten sein Empfinden und seine Entschlüsse durch, wie entfernte er sich mit jedem Tage weiter von seinem Ausgangspunkt, wie wenig glich, was er jetzt für klug und gerecht hielt, dem, was er in den ersten Tagen für selbstverständlich und unvermeidlich gehalten hatte!

In einem Punkte freilich war er sich gleich geblieben, ja, die Entschlüsse, die sich ihm damals mit Blitzesschnelle aufdrängten und ihn mit einer wilden Freude, mit einer düsteren Genugthuung erfüllten, waren noch fester, eiserner und unerbittlicher geworden. Hätte er überhaupt die seelische Marter dieser sich träge hinschleppenden Tage ertragen, wenn er nicht beide Hände auf das regellos pochende Herz hätte pressen, wenn er ihm nicht hätte sagen können: „Warte nur, Du sollst Deine Rache haben und auch nicht um das Tüpfelchen über dem i sollst Du geprellt werden!“ Er wußte es nicht, aber so oft ihm die Worte des Kommerzienrats vor den Ohren klangen, knirschte er: „Ihr sollt an mich denken!“

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_187.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)