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dem Weihnachtsabend; sich einen Abend nach seinem Sinne durch Anschluß an eine Familie zu verschaffen, war nicht seine Art, während es ihm ernstlich widerstrebte, diesen Abend im Kreise von Schicksalsgenossen im Wirtshause zu verleben. So hatte er sich denn immer ein Fichtenbäumchen besorgt, und mit einem halben Lächeln über diese echt deutsche Gefühlsweichheit sein Zimmer mit Kerzenschimmer und Nadelduft erfüllt -und sich eine Weihnachtsfreude dadurch bereitet, daß er die Lektüre eines Buches begann, das er sich lange ausgespart hatte. Er war dieser Gewohnheit in der Fremde erst recht treu geblieben, kam doch hier noch eine Regung von Heimweh hinzu, das ihm am Christabend doppelt schwer aus die Seele gefallen wäre. Nun erlebte er wieder einen Weihnachtsabend in der Heimat, aber diesmal fehlte in seinem Zimmer der weißgedeckte Tisch und das grüne Bäumchen. Er hatte flüchtig den Gedanken gehabt, sich auch dies Jahr nach einer Fichte umzusehen, aber ebenso rasch hatte er ihn wieder verworfen; es war ihm alles zuviel, alles gleichgültig, und dann wollte er sich auch nicht weich machen. Er mußte hart sein, wenn er seine Rolle bis zum letzten Wort streng und folgerichtig durchführen wollte, und so beschränkte er sich darauf, Frau Meiling ein Geschenk zu machen, das die alte Frau um so tiefer rührte, als sie nicht gewagt hatte, ihrerseits an ein Geschenk zu denken. Außerdem hatte er einigen armen Arbeiterfamilien anonym durch die Post kleine Geldgeschenke gemacht — dazu, den Leuten durch Brennmaterial oder Lebensmittel, die er erst hätte einkaufen müssen, eine Freude zu machen, war er doch zu müde gewesen — und als er nach Einbruch der Dunkelheit einen Gang durch die Stadt machte und dabei auf ein kleines Mädchen traf, das, die blaugefrorenen Händchen unter der Schürze, vor einem Spielwarenladen stand und die ausgestellten Herrlichkeiten anstaunte, ging er mit ihr, die ihm betroffen folgte, hinein, forderte sie auf, sich eine Puppe auszusuchen, und schüttete, als sie dies gethan, den Inhalt seines Portemonnaies in ihr gedrucktes Kattunschürzchen und schickte sie mit einem freundlichen:

„Nun lauf aber Kleine, und schenk das Geld der Mutter!“ heim.

Er selber aber ging langsam nach Hause und dachte, zwischen Bitterkeit und Wehmut schwankend: „Wenn Dir nun in ein paar Tagen ein plumper, roher Mensch Deine liebe, schöne Puppe aus der Hand schlägt, daß ihr Porzellankopf auf dem Pflaster in Stücke und Splitter zerschellt, die sich nimmer wieder kitten lassen, bist Du dann nicht vielleicht trauriger als ich und ist, was ich ertragen muß, denn so erheblich härter? Ist es nicht im wesentlichen genau dasselbe Malheur?“

Silvester-Punschlaune und Neujahrs-Katzenjammer waren nie nach seinem Geschmack gewesen; er hatte auch den Jahreswechsel stets still für sich begangen und die lärmenden, ausgelassenen Gesellschaften, die sich an diesem Abend zusammenfinden, gemieden. Aber er war doch immer ans Fenster getreten und hatte auf den Schlag der mitternächtigen Stunde gelauscht und seinen Freunden im Geiste ein kräftig-herzliches „Prosit!“ zugerufen; diesmal zündete er sich nicht einmal Licht an und

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_186.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)