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mit dem Zubettgehen und Doktorn wird nun vollends nichts. Ich bin ein wenig übernächtig, das ist alles, und Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen.“

Dadurch ließ sich die gute Frau freilich nicht täuschen; sie sah ihrem Mietsmann besorgt nach, schüttelte das graue Haupt und murmelte: „Er hat gewiß wieder die ganze Nacht geschrieben, und das kann unmöglich gut sein. Was er nur immer zu schreiben haben mag? Es wäre ihm viel zuträglicher, sich bei Zeiten aufs Ohr zu legen und ordentlich zu schlafen; er arbeitet doch den Tag über genug und könnte sich nachher Ruhe gönnen.“

Als Wolfgang abends heim kam, fing sie ihn ab und sah ihm forschend ins Gesicht. Er bemerkte es und sagte scherzend, wie schwer ihm auch das Scherzen fiel:

„Nun, sehe ich wieder manierlich aus? Es war nur eine kleine Staupe, die man beim Arbeiten am schnellsten und leichtesten überwindet.“

Aber die gutherzige Alte ließ sich kein X für ein U machen; Wolfgangs fahle Blässe, der erloschene Blick seiner Augen und die Schatten unter ihnen entgingen ihrem Scharfblick nicht und sie hörte es auch dem Klange seiner Stimme an, daß nicht alles war, wie es sein sollte. Sie hörte ihn noch lange mit schweren, ungleichmäßigen Schritten oben im Zimmer auf und ab gehen, und auch das beunruhigte sie. Was er nur haben mochte? Aber sie wußte längst, daß sie nicht fragen durfte, und es ließ sich so hoffen, daß die Geschichte auch wieder vorübergehen würde. Vielleicht war er schon am nächsten Morgen wieder ganz der Alte und wünschte ihr mit einem Scherzwort einen guten Morgen — er war ja nie krank gewesen.

Diesmal war er aber doch krank, wenn auch in anderer Weise, als die gute Frau Meiling meinte. Er blieb still, gedrückt und einsilbig ging schweigend ab und zu und hatte für so manche Frage der alten, braven Frau nur ein mattes, zerstreutes, melancholisches Lächeln. Manchen Tag kam er ihr so sanft vor, wie nie zuvor, am nächsten Tage schien er von einer nervösen, fiebernden Unruhe beherrscht zu werden, und hatte ungeduldige, fast harte Accente in seiner Stimme. Sie wurde fast irre an ihm, und wenn sie nicht so heillosen Respekt vor ihm gehabt hätte, würde sie am Ende die Frage riskiert haben, ob ihm ein Mädchen zu schaffen mache, und wer denn eigentlich die unbegreifliche Thörin sei, die ihm das Herz so schwer mache, statt mit beiden Händen zuzugreifen. Sie hörte da und dort herum, ohne jedoch nur die leiseste Spur aufzufinden, und Wolfgang kam jeden Abend mit ungewöhnlicher Pünktlichkeit heim, so daß sich nicht einmal vermuten ließ, er mache irgendwo Fensterparade. So blieb das beunruhigende Rätsel ungelöst; die Tage gingen eintönig dahin, und auch in den späteren Abendstunden hielt sich Wolfgang still zu Hause; der Gewohnheit der einsamen Spaziergänge schien er ganz und gar entsagt zu haben.

Solange er in Deutschland gelebt hatte, war ihm das Fehlen alles Familienzusammenhangs nie so fühlbar gewesen, als in den Tagen vor

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_185.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)