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leise zuckte es um die Mundwinkel, bald huschte ein Lächeln, ein fast übermütiges Lächeln über seine Züge. Was hatte er da nicht alles zusammengezweifelt und zusammengegrübelt und wie thöricht war er doch oft gewesen, welche unnötigen Schmerzen hatte er sich so recht geflissentlich bereitet — Sich allein? Wer wußte denn, ob nicht auch Martha gelitten hatte — durch seine Schuld? Möglich, daß sie ihn, wußte sie erst alles, einen Kleinmütigen schalt, daß sie ihn neckte und ihm liebevolle Vorwürfe machte. Nun, er wollte alles ruhig über sich ergehen lassen und ihr seine Zweifel abbitten, und mußte sie ihm dann nicht gern und willig vergeben, wenn sie alles reiflich erwog und sich in seine Lage dachte? Und er schloß in dieser Nacht kein Auge, denn ein liebes Traumbild wich nicht aus seiner Seele. Er saß vor Martha auf einem Taburett und sie hob sein von tiefer Schamröte gefärbtes Gesicht am Kinn in die Höhe und strich ihm die Locke aus der Stirn und hob scherzhaft drohend den Zeigefinger und sagte leise und innig: „Und das alles hast du von deiner armen Martha denken können, du schlimmer, argwöhnischer, ungerechter — lieber Mann? Wenn ich das gewußt hätte! Ich hätte dann doch vielleicht Mittel und Wege gefunden, dich vor deinen Zweifeln zu retten und wir hätten nicht so lange Verstecken miteinander gespielt und einander nicht so lange und so bitter gequält!“

„Morgen schreibe ich! Den wichtigsten Brief meines Lebens!“ Das war der Gedanke, mit dem Wolfgang einschlief, als der Wintertag bereits graute. Wie freute er sich auf diesen Brief!

Martha würde wohl Mühe gehabt haben, sich am nächsten Morgen mit gleicher Klarheit Rechenschaft über ihre Gedanken in jener Nacht abzulegen, wie dies Wolfgang gekonnt hätte. Es stürmte und wogte in ihr von Glück, von unaussprechlichem Glück, das sie nicht zu fassen vermochte; sie wagte es nicht, das Wort auszusprechen, das vor ihren Ohren sang und klang, das süße Wort: „Er liebt mich!“ War es ihr doch, als müßte ihr das Herz zerspringen vor Jubel, wenn sie die scheue, glückselige Ahnung in Worte faßte: „Ist es denn möglich, kann es denn sein?“ Hundert und hundertmal wiederholte sie sich die Frage und schauerte noch in der Erinnerung zusammen unter der leisen Berührung von Wolfgangs Hand, und alle die öden, freudlosen Jahre ihrer Jugend waren wie ausgelöscht und vergessen. Was nun kam — sie hatte nicht den Mut, es auszudenken, aber so, wie es gewesen war, so konnte es doch nimmer wieder werden, und ein Jugendgefühl, wie sie es noch nie empfunden, durchströmte ihre Adern, und sie lächelte träumerisch bei dem Gedanken, daß sie vor Jahren, als sich an ihren Schläfen die ersten weißen Härchen zeigten, in müder Resignation ihrer Jugend Lebewohl gesagt hatte. Nun wußte sie, daß ihr mindestens ein heißer Spätsommer und ein milder, sonniger Herbst beschieden war, und mit überstimmender Zärtlichkeit flüsterte sie Wolfgangs Namen und fragte:

„Morgen, morgen! Was wird dieses „Morgen“ bringen?“ Das Glück, das für sich zu begehren und zu hoffen sie längst verlernt? Sollte sie dies Jahr zu Weihnachten die Glücklichste im ganzen Hause sein? Und

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_174.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)