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um ihm zu begegnen, und es war unter den Nachbarinnen darüber schon mancherlei Geflüster und Gemunkel gewesen und die Spottlust hatte reiche Nahrung gefunden; er aber schien von alledem nichts zu bemerken oder bemerkte wirklich nichts, und wenn er abends gegessen hatte, rief er seinen mächtigen, klugen Hund und wanderte mit ihm hinaus in die Berge und in den Wald und nach seiner Rückkehr brannte die Lampe in seinem Zimmer regelmäßig bis lange nach Mitternacht. Hatte er vielleicht drüben in dem nebeligen England eine Braut? Frau Meiling wagte danach nicht zu fragen, denn er hatte ihr einmal bei Gelegenheit erklärt, er möge mit Menschen, die andere neugierig nach ihren persönlichen Verhältnissen ausfragten, nichts zu schaffen haben und sie könnten sicher sein, daß er ihnen zur Strafe in aller Unbefangenheit die tollsten Geschichten aufbinde, wenn er gerade in der rechten Stimmung sei. Sie hatte aber überlegt, daß sich unter den Porträts, welche die eine Wand seines Zimmers schmückten, auch nicht ein einziges weibliches Gesicht befand, das nur einigermaßen in den Verdacht geraten konnte, das einer Geliebten ihres Mietsmannes zu sein; zudem würde dieses Bild doch einen Ehrenplatz erhalten haben und vor den anderen so oder so ausgezeichnet worden sein. Oder ließen ihn die hübschesten Mädchen nur deshalb so gleichgültig, weil er höher hinaus wollte? Sie hätte es ihm gar nicht einmal verübeln können, denn sie fing nachgerade an, den jungen Mann in erklärter Parteilichkeit und mit fast mütterlicher Bewunderung mit anderem Maße zu messen, als andere gewöhnliche Menschenkinder.

Wolfgang war mit seinem Abendbrot bald fertig, obwohl er nach Art geistig sehr regsamer Menschen während des Essens zugleich eine Zeitung studierte, indessen haben wir Zeit, ihn während dieser Doppelbeschäftigung uns genauer anzusehen. Hat er auf den ersten Blick einen entschieden martialischen Eindruck gemacht, so stellt sich bald heraus, daß wir uns dabei durch einen Zug von Stolz und den dem ganzen Gesicht ausgeprägten Ernst irreleiten ließen; es ist im Grunde nichts Soldatisches an ihm, als der sorgfältig gepflegte, seidenweiche blonde Schnurrbart, dessen letzte Spitzen fast die Schulterblätter berühren. Die großen blauen Augen erhalten einen ihnen nicht natürlichen Ausdruck von Strenge nur durch den forschenden, prüfenden Blick, der ihnen eigen ist und jeder Seele ihr Geheimnis abfragen zu wollen scheint; im Grunde sind sie sanft, und enthusiastische ältere Mädchen würden sie sogar unbestreitbar träumerisch finden. Zu diesem fast weiblichen Zug stimmen auch das weiche Kinn, die feingeschnittene Oberlippe, die über die Unterlippe auffallend dominiert, die kleine, weiße Hand mit den schlanken Fingern, die voraussichtlich in einem nicht allzu niedlichen Damenhandschuh Platz hat und selbst der ganze Bau, der von Haus aus zart angelegt und nur durch körperliche Uebungen und konsequente Abhärtung gegen Wind und Wetter gekräftigt und gestählt worden ist. Das Gesicht, dessen Regelmäßigkeit durch die hohe, reine Stirn den Charakter des Edlen erhält, ist von jener energischen Blässe, die teils

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_17.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)