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verleidet wird, in unserem Kreise je wieder im Ernste einen Kandidaten aufzustellen.“

Der Landrat ließ sein Glas mit dem Herrn Reischachs anklingen, legte die Serviette beiseite und sagte, den Wein mit geübter Zunge bedächtig nachkostend:

Das kann leicht kommen, aber — glauben Sie denn, daß wir es nur mit dem Kandidaten des Centrums zu thun bekommen? Ich möchte nicht darauf schwören und bin auf einen dritten Bewerber gefaßt, wenn ich ihn auch vorerst nicht fürchte.“

„Aber, Herr Landrat, woher soll denn der Dritte kommen? Wir sind ja, wenn wir auch liberal heißen, so konservativ, daß sich alle konservativen Elemente uns angeschlossen haben, und eine Fortschrittspartei existiert in unserem Kreise doch nur noch dem Namen nach — Offiziere ohne Soldaten!“ Herr Reischach lächelte behaglich und überlegen.

„Nun, und die Roten, Herr Kommerzienrat? Sie vergessen, daß das letzte Mal im ganzen Kreise noch kein sozialistischer Verein existierte; jetzt sind sie allerwärts aufgetaucht, wie Pilze nach einem warmen Regen, und die Leute werden einmal das ziffermäßige Resultat ihrer bisherigen Anstrengungen sehen wollen, die gar nicht zu verachten sind. Ich bin sehr geneigt, zu glauben, daß sie eine überraschend anständige Minorität erzielen würden.“

„Aber das fehlte gerade noch — das ist ja gar nicht möglich, lieber Herr Landrat. Unser Vereinchen hier am Platze besteht allerdings aus intelligentem Burschen — ich habe mich schon oft darüber geärgert —, aber was ihnen anhängt, ist doch fast ausschließlich heruntergekommenes, wüstes, gewaltthätiges Volk, das mehr abschreckt als anzieht; auf den Kern unserer Arbeiterschaft haben sie nicht den mindesten Einfluß, und die ganze Bürgerschaft ist ihnen spinnefeind, um nicht zu sagen todfeind.“

„Meine Informationen klingen weit weniger rosig, bester Herr Kommerzienrat; man hat die unlauteren Elemente entweder discipliniert oder abgestoßen und der Verein hat, wenn auch, aus naheliegenden Gründen, wenig Mitglieder, desto mehr heimliche Sympathien, und die Wahl ist ja, wenigstens nach der Meinung der Leute, die Farbe und Format eines Stimmzettels in ihrer Unschuld für gleichgültig halten, geheim. Speciell Ihre Arbeiter sind, wie ich höre, sehr stark infiziert und unter allen Umständen ist mir ein kleiner Krawall, wie der in diesem Sommer, lieber, als die Einsicht, daß Krawalle und Putsche nur schaden. Sie lassen sich durch die Ruhe der Leute und ihre principielle Vermeidung aller Widersetzlichkeiten täuschen.“

„Ah bah — so schlimm ist es doch nicht, wenn ich auch zugeben will, daß ich mich vielleicht nicht genug um die Stimmung unter den Leuten gekümmert und den Andeutungen des alten Weinlich zu wenig Gewicht beigemessen habe. Vor allen Dingen fehlt ein Führer, der ihnen als Autorität gilt und auf den sie schwören; den Rheinländer, der das Zeug dazu gehabt hätte, haben wir gelegentlich mit guter Manier und ohne Aufsehen uns vom Halse geschafft.“

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_165.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)