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Und sie that aus Zartgefühl das Unklugste und Unpraktischste was sie nur thun konnte — sie schwieg.

Sie hatte flüchtig auch den Gedanken, Wolfgang offen und ehrlich zu fragen, was ihn an jenem Abend, an dem eine so auffällige Wandlung mit ihm vorging, so seltsam verstimmt habe; sie wollte ihn herzlich bitten, ihr eine ebenso offene und rückhaltlose Antwort zu geben, und vielleicht bekam sie dann auch Aufschluß über den Abbruch jedes Verkehrs und darüber, daß er nie wieder eine Einladung erhalten hatte. Aber sie schrak vor dem Wagnis zurück, sie fürchtete, sich einer Mißdeutung auszusetzen, sie zitterte davor, Wolfgang durch ein zu sichtliches Entgegenkommen zurückzustoßen und einen Verdacht in ihm zu erwecken, an den sie nicht denken konnte, ohne tief und brennend zu erröten. Ja, hätte Wolfgang nur mit einer Silbe davon gesprochen, daß sie sich so lange nicht gesehen, hätte er das leiseste Bedauern darüber geäußert! Aber er knüpfte ja, mit absoluter Uebergehung der ganzen Zwischenzeit, da wieder an, wo sie an jenem Abend abgebrochen hatten, und konnte er nicht Gründe dafür haben, die lange Pause, die für ihn vielleicht herbe Erinnerungen barg, mit Stillschweigen zu übergehen? Und war das, was er that und fühlte, nicht recht und gut, so daß sie nicht anders konnte, als sich ihm fügen, auch wo sie ihn nicht verstand? War zudem nicht alles, alles wieder gut, war er nicht in Blick und Ton ganz der Alte, und war nicht vielleicht alles, was sie geträumt und gefürchtet, sehr, sehr thöricht? Mußte denn auch gesprochen sein, da schon in dem bloßen Einanderwiederhaben, in dem langsamen Nebeneinanderhergehen ein so reines Glück lag?

Wie schade, daß uns nicht wenigstens in unseren Herzensnöten ein Schutzengel zur Seite geht, der so freundlich ist, uns in kritischen Momenten einen guten Rat zuzuflüstern und uns so vor verhängnisvollen Unterlassungssünden zu bewahren! Hätte ein solches gutmütiges, allwissendes Fabelwesen unsichtbar zwischen den beiden Menschen geschwebt, die zuletzt so langsam durch das Flockengewimmel schritten, als hätten sie am liebsten jeden Schritt zurückgethan, der sie ihrem Ziele entgegenführte, es hätte Martha zugeraunt: „Sprich und sprich sofort; sag ihm, daß du auch vor seiner Parteistellung nicht zurückschreckst, daß du, um ihn zu verteidigen, zum ersten und vielleicht letztenmal in deinem Leben auf einen politischen Streit dich eingelassen hast. Er wartet darauf, mit ungeduldigem Herzklopfen, daß du thust, was Leontine und selbst das Kind Emmy gethan haben und was er ihnen kaum gedankt hat, während er es dir von ganzer Seele und in überströmendem Gefühl danken würde.“ — Und Wolfgangs Hand hätte es leise, aber fest zurückgehalten, als sie schwer ward und niedersinken wollte, und ihm ins Ohr gehaucht: „Noch nicht, erst laß sie reden; dann thue, was du willst und was dein Herz dich lehrt. Du wirst eine Voreiligkeit, die fünf Minuten nicht warten mag, mit Qual und Thränen bezahlen.“

So aber blieben sie sich selber überlassen; Martha kämpfte, überlegte und zauderte, und als sie endlich den Mund öffnen wollte, um die paar

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_162.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)