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vorher erschöpft hatte Halt machen müssen, passierten. Einmal wieder im Freien, kamen sie langsam aber stetig vorwärts, und Marthas einzige Antwort auf Wolfgangs besorgte Fragen, ob sie nicht wieder Halt machen sollten, damit sie ein paar Minuten ausruhen könnte, war ein verneinendes Lächeln, und am liebsten hätte sie gefragt: „Soll mir Ihre Nähe nicht die Kraft einflößen, mit Ihnen Schritt zu halten? Und ich bin auch gewiß kein nervenschwaches Dämchen, das in einer solchen Situation nichts besseres zu thun weiß, als in Ohnmacht zu fallen und sich tragen zu lassen.“ Sie errötete über den eigenen Gedanken, — mußte sie sich gestehen, daß er etwas seltsam Süßes und Verlockendes hatte?

Die Heftigkeit des Sturmes verminderte sich nicht, aber als sie erst den Wald erreicht hatten, der ihnen Schutz bot, achteten sie desselben kaum noch und schritten in dem nur aus wenige Schritte einen Ausblick gestattenden Gestöber langsamer dahin, als unbedingt nötig gewesen wäre; sie hatten es ja beide nicht so eilig, dieses unvermutete, beglückende Beisammensein zu beendigen.

Wolfgang ließ sich von Martha erklären, wie sie bei diesem greulichen Unwetter ins Freie gekommen war. Ein Samaritergang in ein benachbartes Dorf, von dem man daheim nichts wußte und auch nichts erfahren sollte, hatte ihr mehr Zeit gekostet, als sie erwartet hatte, und der Wunsch, vor Einbruch der Nacht die Stadt wieder zu erreichen, hatte sie verleitet, den ihr „so vertrauten“ (sagte sie das absichtslos?) näheren Weg einzuschlagen.

Wie lieb und herzlich klang es, wie stolz und glücklich machte es sie als Wolfgang erwiderte:

Mir verraten Sie kein Geheimnis, wenn Sie mir sagen, daß Sie Armen und Elenden Hilfe gebracht und ihnen — was vielleicht mehr ist — in teilnahmsvoller Weise Trost eingesprochen haben. Ich habe Ihren Namen oft nennen hören, von lebensmüden Greisen und von verkümmernden Kindern; ich habe ja so manchen Blick in die Hütten gethan und werde, was ich so gesehen, nie vergessen.“

Martha war nahe daran, sich mit Bitterkeit und Entrüstung darüber auszusprechen, daß Wolfgang gerade seiner Teilnahme für die Armen wegen angefeindet werde, der Name des Rektors schwebte ihr auf der Zunge, aber — nie war es ihr kindischer vorgekommen, diesen sicheren, kühnen, besonnenen Mann warnen zu wollen, und wenn sie es that und die Warnung ihm als ein Ausfluß kleinlicher weiblicher Klugheit erschien und ihn unangenehm berührte, hätte sie dann nicht mutwillig den Zauber gebrochen, der über ihnen waltete? Und konnte er nicht auch glauben, sie wolle ihn in Ermangelung anderer Berührungspunkte dadurch für sich interessieren und eine gewisse Bundesgenossenschaft zwischen ihnen herstellen, daß sie Sympathien mit seinen politischen und sozialen Anschauungen verriet? Mußte er nicht denken: „Davon verstehen Sie ja doch nichts, es muß also einen sehr persönlichen Grund, den Grund, sich mir angenehm zu machen, haben, wenn Sie solche Fragen herbeiziehen?“

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_161.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)