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sehen. Und hat das Bewußtsein, einem modernen Dichter dasselbe zu sein, was Beatrice für Dante war (soviel hatte sie doch aus der Literaturgeschichte behalten), nicht auch seinen geheimen Reiz? Wer weiß, ob er nicht noch berühmt wird, und dann steht vielleicht in seiner Biographie, daß eine hoffnungslose, verschwiegene Liebe zu einer jungen Dame, die gesellschaftlich unerreichbar hoch über ihm stand, seinen schönsten Liedern das Leben gegeben und ihnen die schwermütig-seelenvolle Färbung verliehen habe, und daß er unverheiratet geblieben sei, da er diese Liebe nicht zu vergessen vermochte. Gewiß, es ist besser so, und ich bin doch eigentlich recht romantisch-thöricht gewesen, als ich an einen minder zarten Ausgang dachte. Nicht Braut, aber ein in verschwiegener Seele verehrtes Dichterideal! Ich werde ihn durch einen tiefen, seelenvollen Blick belohnen, der ihm sagt, daß ich ihn verstehe und seine Huldigung annehme.“ Und sie kam sich sehr erhaben vor und lächelte, träumerisch wie sie glaubte, vor sich hin. —

Für Wolfgang schien mit dem Briefchen der Kleinen eine Aera der Billet doux zu beginnen. Am Tage nach dem Empfang jenes Briefchens fand er ein zweites vor, dessen Handschrift er sofort erkannte; es war die von Frau v. Larisch. Dieses zweite Briefchen war erheblich kürzer als das Emmys und lautete folgendermaßen:

„Wenn Sie sich morgen abend 7 Uhr an der Parkpforte einfinden wollen, werden Sie dort eine Dame finden, die der Wunsch, Ihnen eine Warnung zukommen zu lassen, bestimmt, einen solchen der Mißdeutung ausgesetzten Schritt zu thun. Dafür, daß er bei Ihnen einer solchen Mißdeutung nicht ausgesetzt ist, bürgt ihr Ihr Charakter.

Ein Maiblümchenstrauß.“

Sie also?“ sagte Wolfgang leise vor sich hin. Nun erst erfuhr er, daß es Frau v. Larisch gewesen war, die ihm diese feine Aufmerksamkeit erwies, die ihn auf seinem Krankenlager so eigentümlich bewegt und gerührt hatte. Diese Entdeckung war weit davon entfernt, ihm Freude zu machen und nur widerstrebend entsagte er der Illusion, die er so lange gehegt hatte. Er schwankte sogar geraume Zeit, ob er dieser Einladung Folge leisten solle, aber der Gedanke an die Bereitwilligkeit, mit der ihm Frau v. Larisch entgegenkam, als er sie für die kleine Anna zu interessieren wünschte, schien ihm die Verpflichtung aufzuerlegen, ihre Warnung anzuhören, die jedenfalls mit der bereits erhaltenen identisch und ebenso gut gemeint war. Vielleicht erfuhr er sogar von der weltkundigen klugen Dame Näheres und Greifbareres, und so wenig er sich auch vor seinen Gegnern fürchtete — war es denn so ganz unmöglich, daß die äußerste Vorsicht noch gebotener war, als er nur ahnen konnte?

Dem Abend, an dem sich Wolfgang zu dem geheimnisvollen Rendezvous begab, war einer jener klaren, milden, stillen Tage vorausgegangen. Wie sie auch das letzte Drittel des Oktober uns zuweilen noch beschert. Auch in der Seele unseres jungen Freundes war es still und klar, und der Gedanke an die Begegnung, die ihm bevorstand, trieb ihm das Blut nicht rascher durch die Adern. In nachdenklichster Stimmung schritt er

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_147.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)