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die Adresse nicht gewesen wäre, keinem Zweifel — der Brief war an ihn gerichtet.

Nun war es freilich komisch, äußerst komisch, daß man sich so romantische Vorstellungen von seinem geheimen Ratschlagen mit den Arbeitern machte und die Zusammenkünfte mit denselben in des Waldes tiefste Gründe und womöglich in Schluchten und Höhlen verlegte, man hätte es näher und bequemer haben können, denn in Wirklichkeit hatten die vertraulichen Besprechungen, die zur Gründung des kleinen, aber bereits gehaßten, weil instinktiv gefürchteten sozialdemokratischen Arbeitervereins geführt hatten, im Städtchen selbst und zwar in der Wohnung eines Arbeiters stattgesunden, und Wolfgang hatte es nicht einmal für nötig gehalten, den Gang dorthin vermummt oder auf Umwegen und durch Nebenpförtchen anzutreten. Immerhin war und blieb die Warnung gut gemeint nicht bloß, sondern auch dankenswert, aber von wem kam diese Warnung? Er wußte keine Antwort auf diese Frage.

Das Briefchen hatte seine Geschichte. Fräulein Emmy war sich entschieden wichtig vorgekommen, als sie ihre Schreibmappe zur Hand nahm — that sie nicht vielleicht einen folgenschweren Schritt, indem sie, wenn auch anonym, an Wolfgang schrieb? Sie wählte lange unter ihren Briefbogen: sollte sie einen bunten, sollte sie einen mit gepreßten Käntchen nehmen? Das war in der That eine wichtige Frage, wichtiger fast, als die, in welchem Tone der Brief zu halten sei. Als freilich ein Bogen gewählt war, fiel ihr der Zweifel, ob sie auch den richtigen Ton treffen werde, schwer aufs Herz — sie befand sich allerdings in einem höchst bedenklichen Dilemma. Sie zagte davor, als Absenderin bekannt zu werden, und mußte sich doch gestehen, daß sie sehr unzufrieden mit dem Briefe sein würde, wenn sein Wortlaut die Möglichkeit ausschlösse, erraten zu werden; sie errötete tief bei der bloßen Vorstellung, daß Wolfgang aus dem Tone ihrer Zeilen schließen könnte, sie nehme ein wärmeres Interesse an ihm und doch hätte sie ihren Brief um keinen Preis so formuliert, daß jede solche Vermutung ausgeschlossen war. Nein, das durfte nicht sein; sie dachte sich's unwillkürlich bezaubernd, durchblicken zu lassen, nach welchem sinnverwirrenden, nie geträumten Glück Wolfgang nur die Hände auszustrecken brauchte. Sie wurde seltsam warm bei dem Gedanken, welchen überwältigenden Eindruck so viel Güte und Herablassung auf den jungen Mann machen müßte, und wenn er dann zu ihr kam, wenn er hingerissen vor ihr auf die Knie sank und ihre Hände bebend mit Küssen bedeckte — wer wußte, ob sie dann nicht ihrer romantischen Güte die Krone aufsetzte und ihn zu sich emporzog? Er war freilich nicht Offizier, und das war ewig schade, aber er war doch ein so hübscher junger Mann, sanft und stolz zugleich, und traf sie nicht vielleicht eine weise Wahl, wenn sie sich einen Gatten auserkor, der ihr ewig dankbar sein, der sie anbeten und auf den Händen tragen mußte, was wohl keiner von den verwöhnten Herren in Attila und Stulpstiefel thun würde? Sie war fast gerührt und weich und das Romantische des Gedankens lieh ihr Flügel — sie konnte ein mutwillig-übermütiges Lächeln nicht unterdrücken, wenn

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_145.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)