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Mein Herr!

Eine Dame, die Ihnen wohl will und der kein anderer Weg offen steht, um Ihnen einen Wink zu geben, der wohl von Wichtigkeit für Sie sein dürfte, entschließt sich, wenn auch ungern, dazu, sich brieflich an Sie zu wenden und hält sich für dazu verpflichtet, in Erinnerung an eine ihr von Ihnen erwiesene zarte Aufmerksamkeit, die ihr eine lebhafte Freude bereitet hat, ohne daß sie im stande gewesen wäre, Ihnen ihren Dank abzustatten.

Es droht Ihnen Ihrer politischen Thätigkeit wegen und weil man einen geheimen Verkehr zwischen Ihnen und den Arbeitern vermutet, Gefahr von seiten zweier Männer, die Ihre Gänge überwachen und sich aufs Spionieren gelegt haben. Es wird Ihnen von Interesse sein, das zu wissen. Ich erlaube mir nicht, Ihnen einen Rat geben zu wollen, aber ich bitte Sie, auf Ihrer Hut zu sein, und Sie werden diese Bitte nicht mißverstehen und ihr keine willkürliche Deutung geben.

Wenn Ihre Vermutungen über die Schreiberin dieser Zeilen, was ja möglich wäre, das Richtige träfen, so geben Sie derselben Ihren Dank dadurch zu erkennen, daß Sie ihr durch keine Andeutung und keinen Wink eine Verlegenheit bereiten, sondern diese Zeilen absolut ignorieren.

I. S. D. N.

P. S. Die beiden Ihnen feindlich gesinnten Herren sind Rektor Storck und Weinlich. Wenn Sie im Sinne der Absenderin handeln wollen, so übergeben Sie diese Zeilen den Flammen; ich bin zu dieser Bitte genötigt, obwohl ich Ihnen für das mir gewidmete Andenken gern ebenfalls ein schriftliches Erinnerungszeichen gewährte.“

Wolfgang zündete eine Kerze an und hielt das Blatt in die Flamme, bis das starke, mit Goldschnitt versehene Blatt langsam zu einem verkrausten schwarzen Aschenblatt verbrannt war; er legte dasselbe auf die flache Hand, öffnete das Fenster und blies es hinaus in die blaue Abendluft, die es spielend entführte. Der Brief gab ihm Rätsel auf. Die Anspielungen auf mutmaßlich sehr zarte und keine rauhe Berührung vertragende Beziehungen zwischen ihm und der Schreiberin waren ihm vollkommen unverständlich, und er vermochte trotz alles Nachdenkens keinen Sinn in diese geheimnisvollen Andeutungen zu bringen. Er würde un-bedenklich ein Mißverständnis angenommen haben, hätte nicht das Thatsächliche der Warnung jeden solchen Gedanken ausgeschlossen. Davon, daß ihm der Rektor und der alte Weinlich aufs bitterste grollten, brauchte man ihn nicht erst in Kenntnis zu setzen, und auch das war für ihn über jeden Zweifel erhaben, daß ihm die beiden häufig nachschlichen; er war ihrer wiederholt in später Stunde auf einsamen Wegen von weitem ansichtig geworden, und sie hatten dann jedesmal das ersichtliche Bestreben gezeigt, ihm auszuweichen und sich seinem Blick baldmöglichst zu entziehen. Er hatte das anfänglich für Zufall gehalten, doch allmählich hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrängt, daß hier Absicht und Planmäßigkeit angenommen werden mußten. Es unterlag also, auch wenn

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_144.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)