Seite:Ein verlorener Posten 143.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

haben es gut gemeint, aber die Warnung ist überflüssig. Glauben Sie, daß ich diese Intriguen nicht durchschaue und daß ich mit diesen Gegnern nicht ganz allein fertig werde?“ Und das war noch der günstigste Fall. Konnte er nicht in der Warnung, die sie ihm zukommen ließ, einen unzarten Annäherungsversuch sehen, der sie in seiner Achtung herabsetzte? Stand es doch ohnedies schon wie ein dunkles, banges Geheimnis zwischen ihnen, sollte sie nun auch noch mit eigener Hand den letzten Pfad verschütten und unwegsam machen, der ihn ihr vielleicht doch wieder zuführte? Sie vermochte den Gedanken nicht zu ertragen, nein, sie durfte ihn nicht warnen wollen.

Es war eine seltsame Aufregung, die für den Rest des Abends die doppelt schweigsam Gewordene beherrschte. Was war nur über sie gekommen, was war in ihrem Innern vorgegangen, daß sie unter Verleugnung ihres eigensten Wesens für eine Stunde aus der zarten Schäferin Johanna zur geharnischten Jungfrau wurde, daß sie streiten gelernt und scharfe, ja bittere Accente gefunden hatte? Sie begriff sich selber nicht, und so wenig war sie daran gewöhnt, eine andere, als eine passive Energie zu entwickeln, daß die ungekannte Anstrengung und Erregung noch lange in ihr nachzitterte. Sie fühlte sich, als der unausbleibliche Rückschlag kam, der jeder starken Anspannung unserer Geisteskräfte zu folgen pflegt, ermattet und erschöpft, und es beschlich sie eine eigene Art von Traurigkeit, aber selbst diese Ermattung hatte etwas Süßes und Hand in Hand mit der Traurigkeit ging ein Gefühl von Glück, Stolz und Zufriedensein mit sich selbst, das sie um keinen Preis hätte hingeben mögen. Es war so unwahrscheinlich, daß Wolfgang je erfuhr, wie tapfer sie für ihn eingetreten war und aus ihrem Munde erfuhr er es gewiß nie, aber was kam darauf an? War es nicht genug, daß er, wäre er ungesehener Zeuge der Scene gewesen, ihr freundlich zugenickt und einen Blick voll ermunternder Zustimmung für sie gehabt hätte? Ihre Natur schrak vor Streit und Widerspruch zurück, das aber wußte sie, daß sie, wenn sie Wolfgang wiederum verunglimpfen hören sollte, keinen Moment zaudern würde, ganz ebenso für ihn einzutreten, gegen die ganze Welt, wenn es sein mußte. Nur das fragte sie sich noch, ob sie auch alles gethan habe, was sie Wolfgang schuldig war, ob sie den Rektor, den sie jetzt geradezu hassen zu können glaubte, auch nach Verdienst zurechtgewiesen habe. Und lange, lange noch lag sie in der Nacht, die diesem aufregenden Abend folgte, schlummerlos in den Kissen und legte die Hand vor die brennende Stirn und sann und sann.

Zwei Tage später fand Wolfgang, als er abends heim kam, am Spiegel ein kleines, zierliches, parfümiertes Briefchen mit ausgezackter Schlußklappe. „Stadtpoststempel? eine völlig unbekannte Handschrift? kein Siegel? kein Monogramm?“ Er öffnete das Couvert, trat, die Cigarre zwischen den Zähnen, ans Fenster, da es schon merklich dämmerte, und las mit steigender Verwunderung und wiederholtem Kopfschütteln die folgenden rätselhaften Zeilen:

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_143.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)