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Kenntnis zur Seite. Oder hat Ihnen der Herr Kommerzienrat von dem Streik erzählt, der vor etwa sechs Wochen ganz unvorhergesehen in der Fabrik zum Ausbruch kam?“

Es gehörte nicht zu den Gewohnheiten des Kommerzienrats, seine Damen mit geschäftlichen Vorkommnissen zu unterhalten: die Thatsache war ihnen vollständig neu. Der Rektor erzählte denn, mit schlecht verhehlter Schadenfreude jedes Wort zu einem Pfeil für Martha zuspitzend:

„Denken Sie sich also, die Arbeiter, die seit dem Krawall eine fast unheimliche Ruhe beobachtet hatten, traten plötzlich mit der Forderung einer Lohnerhöhung hervor und beriefen sich darauf, daß in allen Fabriken des Distrikts die Löhne in der letzten Zeit erhöht worden seien, nur bei ihnen nicht.“

„Und war dem in Wirklichkeit so?“ warf Martha dazwischen.

„Ich bin darüber nicht genau informiert, ich denke aber, es war so; doch —

„Kein „doch,“ Herr Rektor! Schlimm genug übrigens, wenn dann die Leute erst haben fordern müssen.“

„Aber, Fräulein Hoyer, man wird ihnen doch nicht freiwillig mehr geben! Das kann doch nur Ihr Scherz sein? In Wirklichkeit hat der Herr Kommerzienrat die verlangte Lohnerhöhung verweigert, um nicht durch Nachgiebigkeit zu Wiederholungen aufzumuntern, und so kam der Streik zum Ausbruch. Herr Reischach konnte es auf einen längeren Ausstand nicht ankommen lassen, auf ein paar Tage kam es jedoch nicht an, und wenn dann nur etwa der dritte Teil der Leute mutlos ward und zurückkam, konnte er die Lücken durch von anderen Orten herbeigezogene Kräfte notdürftig ausfüllen, seine Lieferungskontrakte innehalten und es ruhig abwarten, bis die Not die Streikenden mürbe und windelweich gemacht hatte. In der That kamen schon nach ein paar Tagen einzeln und in Trupps ältere, verheiratete Leute und meldeten sich zur Wiederaufnahme der Arbeit, und der Plan des Herrn Kommerzienrats würde vollständig geglückt sein, wenn nicht plötzlich die bittend und demütig Wiedergekommenen die Arbeit nochmals eingestellt hätten und zwar Mann für Mann. Alle Vorstellungen und Versprechungen des Herrn Kommerzienrats waren vergebens, er predigte tauben Ohren, und aus mancherlei Andeutungen ging hervor, daß die Arbeiter wußten, in welcher Notlage er sich befand und daß er bei einer Fortdauer des Streiks in einer Woche mehr verloren hätte, als die Lohnerhöhung in einem Monat austrug. Die Arbeiter, mit denen er verhandelte, zuckten zu allen seinen Versicherungen mit ungläubigem, spöttischen Lächeln die Achseln, und es ist kaum ein Zweifel, daß ihnen von einem Eingeweihten, dessen Versicherung ihnen eine hinreichende Bürgschaft war, verraten worden ist, in welcher Lage sich der Herr Kommerzienrat befand und daß ihm gar nichts weiter übrig blieb, als nachzugeben. Wer diesen schimpflichen Verrat begangen hat, darüber kann man zur Zeit nur Vermutungen haben, aber diese Vermutungen stützen sich auf so mancherlei Indizien, und es ist bereits eine Fährte aufgefunden, die uns das schlaue, scheue Wild schließlich

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_140.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)