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Mauern ersticken und als werde es ihr den Abschied erleichtern, wenn sie vorher zum erstenmal einen Blick in Wolfgangs Garten geworfen hätte. Er hatte ihr die Lage desselben so genau beschrieben, daß sie wohl hoffen durfte, ihn zu finden, und das Verlangen, sein kleines, grünes Reich kennen zu lernen, war so unbezwinglich, daß sie auch durch die ihr förmlich aufgezwungene Begleitung der kleinen Anna nicht an der Ausführung des Gedankens hindern ließ. Sie ging mit derselben erst zur Schneiderin (in dem Gang zu ihr hatte sie den gesuchten Vorwand gefunden), schützte aber dann Kopfschmerzen vor, die sich vielleicht verlören, wenn sie noch eine Strecke Wegs ginge, und schlug, durch ihre Begleiterin kaum noch gestört, die Richtung nach Wolfgangs Garten ein. Derselbe ward auf der einen, nicht von dem alten Kanal umschlossenen Seite von der Straße begrenzt; ein Einblick war aber nur an der Thür möglich, da dichtbelaubtes Gesträuch den Zaun entlang eine grüne Wand bildete. Marthas Hoffnung, ein paar Minuten lang das Bild dieses Tuskulums ihrer Seele einprägen zu können, ward vereitelt; sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie sah, daß einem Schwarm von Kindern, die vor der Thür standen, von innen halbverblühte Rosen zugeworfen wurden. Nur die Befürchtung, Anna aufmerksam zu machen, hielt sie ab, dem Impuls einer mädchenhaften Scheu nachzugeben und umzukehren; sie nahm all ihre Kraft zusammen und ging den Zaun entlang, und die Dämmerung verbarg die Röte, die ihr in die Wangen stieg, als sie an einer Stelle, wo das Gebüsch weniger dicht war, mit verstohlenem Seitenblick Wolfgang gewahrte, der mit der Rosenschere die hochstämmigen Remontanten von den Blumen säuberte, die zu verblühen und zu verwelken begannen, und die abgeschnittenen in ein Körbchen sammelte, um sie dann den Kindern zuzuwerfen. Anna hatte noch mehr gesehen; der lange Alfred und sein dicker „Bruder“ kamen vom Kanal her mit gefüllten Gießkannen, und um von ihnen nicht bemerkt zu werden, beschleunigte sie ihre Schritte fast noch mehr als Martha. Als sie außer Gesichtsweite waren, verlangsamten sie ihren Gang und bald sahen sie sich von den Kindern eingeholt, die mit ihren Rosen heimzogen und eifrig darüber stritten, wer von ihnen die schönsten habe. Ein kleines Mädchen hatte ihr Schürzchen ganz voll Blumen und ausgefallenen Blumenblättern; Martha blieb unwillkürlich bei ihr stehen und sagte freundlich:

„Was hast Du da für wunderschöne Rosen, mein Kind! Erlaubst Du, daß ich mir eine davon auswähle?“

Die Kleine hielt ihr das Schürzchen hin — auf eine Rose kam es ihr bei solchem Reichtum wahrlich nicht an. Martha hatte nicht zu lange zu suchen; überrascht wählte sie eine weder sehr große, noch sehr volle Rose, die aber mit ihrem tiefdunklen Purpur geradezu braun erschien und auf deren Blättern ein weicher Sammethauch lag. Sie hatte nie eine so dunkle, so ernste, fast geheimnisvolle Rose gesehen, und auch der feine Duft hatte etwas Eigentümliches, das sie von all ihren weißen, roten und gelben Schwestern unterschied. Sie drückte der Kleinen ein Geldstück in das magere Händchen und steckte die braune Rose an die

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_129.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)