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Wolfgang biß sich auf die Lippen. Konnte er, wenn er ehrlich sein wollte, entschieden widersprechen? Er sah nach der Uhr — es fehlten nur noch wenige Minuten an 11 Uhr und er hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er die Absendung des Telegramms verhindern wollte. Noch war ja bis zwölf Zeit, da vorher der Waffenstillstand schwerlich gebrochen wurde; wenn es ihm gelang, durch eine lebhafte und eindringliche Schilderung dessen, was er gesehen und gehört, dem Kommerzienrat Furcht einzuflößen, für seinen Besitz nicht bloß, sondern sogar für sein Leben (das wäre ja nur eine verzeihliche Notlüge gewesen), so ließ sich derselbe doch vielleicht noch bestimmen, die Fabrikordnung zurückzunehmen. Einen Erfolg konnte er sich freilich nur versprechen, wenn die Absperrung nach jeder Seite eine vollständige war und kein Bote durchzuschlüpfen vermochte; er machte also den jungen Arbeiter, der ihn zuerst empfangen hatte und ihn jetzt auch wieder zurückbegleitete, scherzend darauf aufmerksam, daß sie sich doch nicht so recht aufs Belagern verstünden und daß es ihm ein leichtes sein würde, aus dem Comptoir zu entkommen. Der Wink wurde verstanden — der junge Mann beorderte sofort eine Anzahl Polen, die Rückseite des Gebäudes scharf zu überwachen und niemanden, wer es auch sei, durchzulassen. Der Gedanke, nun den Kommerzienrat eine volle Stunde bearbeiten und die Einflüsterungen des Bürgermeisters und Weinlichs bekämpfen zu müssen, war wenig erfreulich, aber Wolfgang war entschlossen, nichts unversucht zu lassen und den Kampf mit allen aufzunehmen; es durfte nicht zum Einschreiten der Husaren kommen, es durfte wenigstens nicht nach ihnen geschickt werden, und wenn sie infolge anderweiter Benachrichtigung kamen, so hatte er wenigstens alles gethan, was in seinen Kräften stand, und brauchte sich, keinen Vorwurf zu machen. Diese Gedanken jagten sich in seinem müden, wirren, übernächtigten Kopfe, als er nach einer fast artigen Verabschiedung von dem Vertreter der Gegenpartei dem Comptoir zuschritt. Da fühlte er sich plötzlich am Aermel gezupft und gewahrte neben sich einen kleinen barfüßigen, blauäugigen Knaben, der ihm ein zusammengefaltetes Zettelchen hinhielt; ein „Fräulein“ hätte es ihm gegeben und ihm aufgetragen, es so schnell als möglich zu Herrn Hammer zu bringen, den er auf dem Fabrikhof finden würde.

„Ja, kennst Du mich denn Kleiner?“

„O, wie werde ich Sie nicht kennen? Wir kennen Sie alle ganz gut.“

Wolfgang überhörte die kindliche, hübsche Antwort. Er hatte den ziemlich roh zusammengebrochenen Zettel hastig geöffnet und erschrocken und empört knitterte er das inhaltsschwere Briefchen in der Faust zusammen. Auf grobem Papier und in eilfertig hingeworfenen, aber dennoch ungelenken Schriftzügen las er folgende Worte:

„Sie waren kaum fort, so ließ der Herr Kommerzienrat sich von den andern Herrn beschwatzen. Ich wurde mit der Depesche fortgeschickt und es hielt mich niemand auf. Die Depesche, auf die man schon gewartet hatte, ist gleich fortgegangen — es war höchstens halb elf. Richten Sie

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_116.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)