Seite:Ein verlorener Posten 115.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ihnen persönlich mit meinem Wort. Ich werde mit den zuverlässigsten Leuten das Comptoir besetzen und es soll ihnen kein Haar gekrümmt werden.“

Aber nicht das war es, was Wolfgang nachdenklich machte. Er hatte längst gemerkt, daß die Bewachung der Rückseite des Comptoirs eine sehr oberflächliche und ungenügende war; ein Polizist hätte leicht entschlüpfen und die verhängnisvolle Depesche fortbringen können. Sollte er, um das Blutvergießen um jeden Preis zu verhindern, dem Führer der Streikenden einen Wink geben und ihm wenigstens andeuten, daß die Absendung der Depesche sich noch verhindern lasse? Aber es schien ihm fast, als sei demselben gar nichts an der Verhinderung der Requisition gelegen; hatte er doch die falsche Mitteilung, von der er sich eine so tiefe Wirkung versprochen, mit der größten Kühle aufgenommen. Und dann kam es erst zur Demolierung, so war kein Zweifel, daß der Telegraphist auf eigene Faust nach W. Nachricht gab, und dann passierte das Unglück eben nur ein paar Stunden später. So mußte er denn das letzte versuchen. Er fragte:

„Würden Sie Ihren Kameraden von den Zugeständnissen und von der Drohung des Kommerzienrats Mitteilung machen und davon, daß die Husaren möglicherweise in diesem Augenblicke bereits unterwegs sind, wenn nämlich der Telegraphist nicht bis elf gewartet hat?“

„Sie glauben, das werde die heißen Köpfe abkühlen? Machen wir das Experiment. Es kann mir nur erwünscht sein, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen die reine Wahrheit gesagt habe und daß die Leute zum äußersten entschlossen sind. Sie sollen selber sehen, ob und wie Ihre — pardon, die Husaren wirken.“

Er stieg auf eine Tonne, und eine fast unheimliche Stille war die Folge seines Erscheinens. Die melancholischen polnischen Lieder verstummten wie abgeschnitten; man drängte sich von allen Seiten geräuschlos heran und mit lauter Stimme und in kurzen Sätzen teilte der junge Mann den erwartungsvoll Lauschenden mit, zu welcher Erweiterung seines ursprünglichen Zugeständnisses der Fabrikherr sich herbeigelassen habe (daß Wolfgang damit bereits eine große Verantwortung auf sich geladen hatte und daß er gar nicht berechtigt war, dieses Zugeständnis zu machen, war ihm ja unbekannt) und daß die Husaren telegraphisch beordert und vielleicht bereits auf der Straße zwischen W. und M. seien. „Und nun,“ schloß er, „entscheidet euch — ja oder nein?“

Es war ein brausendes Geschrei, das ihm antwortete. „Nein, tausendmal nein!“ „Unbedingte Zurücknahme!“ „Sie sollen nur kommen, die Schnurenmännchen!“ erscholl es drohend und leidenschaftlich von allen Seiten, geballte Fäuste erhoben sich gegen die Fabrik und der Redner schwang sich von der Tonne, trat zu Wolfgang und fragte leise und fast vertraulich: „Die Hand aufs Herz, glauben Sie, daß es denen drin so nicht auch am liebsten ist? Sie wollen Blut sehen und Sie werden es sehen!“

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_115.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)