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Sie vorhin rebellisch gemacht haben, wollen sich gar nicht wieder beruhigen.“

„Wahrhaftig, die reinen Sozialdemokraten! Sie respektieren mein Ruhebedürfnis nicht! Wollt ihr wohl die breiten Mäuler halten, ihr unverschämten Kerle?“

Und er schleuderte eine Handvoll Sand nach der anderen in den Kanal, und als das nichts fruchten wollte und ein vehementes Quaken seinen komischen Zorn verhöhnte, bewaffnete er sich mit einer Bohnenstange und schlug ins Wasser-, daß die Flut hoch aufspritzte und die Trommler und Trompeter der Tiefe erschrocken verstummten.

Die Nacht war so mild, daß Wolfgangs Vorschlag, in der offenen Weinlaube vor dem Häuschen vorzulesen, mit Freuden begrüßt ward. Der dicke Alfred, der es übernahm, die Frösche im Zaume zu halten, nahm mit seiner Bohnenstange gravitätisch auf einem Sessel Platz; sein „Bruder“ legte sich, die Arme unter dem Kopfe, mit angezogenen Beinen auf eine Bank und blickte angeblich „träumerisch“ empor zu dem noch wenig dichten Blätterdache der Laube und zu dem mit funkelnden Sternen bedeckten Himmel; häufig genug passierte es ihm, daß er die Cigarre, die er nur mit den Zähnen hielt, aus dem Munde in den Sand verlor, und er begleitete jeden solchen Fall mit einem komischen Fluch, legte sich aber, nachdem er den Sand sorgfältig abgewischt hatte, in aller Seelenruhe aufs neue zurecht und schien sich so wohl zu befinden, daß man eine gewisse Berechtigung zu der Annahme erhielt, selbst das Nahen einer Dame würde ihn trotz seiner Galanterie nicht vermögen können, diese behagliche Lage aufzugeben. Wolfgang hatte auf die Cigarre halb verzichtet, das heißt, er gestattete sich nur ab und zu, während einer natürlichen oder Kunstpause, einen Zug, damit sie nicht ganz ausging; das Vorlesen fesselte seine volle Aufmerksamkeit und er dachte kaum daran, das Glas flüchtig an die Lippen zu führen. Der auf dem Rücken liegende Zuhörer ließ nichts zu wünschen übrig; häufig genug verriet ein dazwischen geworfenes Wort seine lebhafte Teilnahme. Sein „Bruder“ dagegen rückte sehr bald mit allen Zeichen des Unbehagens auf dem Schemel hin und her, veränderte jeden Augenblick seine Körperhaltung und erklärte, als man am Schlusse des ersten Kapitels angelangt war, daß er es nicht länger aushalten könne. Das Sausen in seinen Ohren sei unerträglich und jedes Geräusch peinige ihn, — man solle es ihm nicht übel nehmen, wenn er sich in den entlegensten Winkel des Gartens zurückziehe, um dort eine Stunde zu ruhen. Die ganze, unwiderstehliche, kindliche Gutmütigkeit seines Wesens lag im Ton seiner Stimme und in seinen Zügen, und als seine fast demütigen und bittenden Vorstellungen eine gute Statt fanden und man ihn lachend entließ, zog er mit seinem Sessel, einer kleinen Bank und den beiden ausrangierten Ruhekissen, die zu dem altväterischen Sofa im Häuschen gehörten, erleichterten Herzens und mit merkwürdiger Beschleunigung ab. Man hörte ihn noch einige Minuten rumoren und Sessel und Bank unter halblautem Selbstgespräch im Sande hin- und

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_100.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)