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verwüstete und verblühte Gesicht der Mutter sich neben ihnen zum Vergleich präsentiert und infolge der unverkennbaren Ähnlichkeit mit Notwendigkeit den Gedanken weckt, daß dieses blühende Kind in dreißig Jahren in jedem Zug der Mutter gleichen werde, wie diese in jungen Jahren der Tochter geglichen haben muß) lagert sich ein leichter Schatten und mit einem kleinen, etwas komisch wirkenden Seufzer sagt sie endlich:

„Da möchte man am Ende sagen, Martha habe das bessere Teil erwählt — auf sie paßt Deine Theorie nicht einmal, denn ihr kann nicht nachgesagt werden, daß sie sich je für Offiziere interessiert hätte; wenigstens habe ich nie etwas darüber gehört.“

„Sehr richtig bemerkt, kleine Neunmalweise. Martha hat sich nie ein Zeichen von Interesse abgewinnen lassen und am allerwenigsten von zweierlei Tuch, aber meine Theorie bekommt dadurch noch kein Loch, Emmy. denn auf die philosophischen Naturen paßt keine von den Theorien, die man aus dem Leben und Treiben der Weltkinder abgeleitet hat.“

Emmy kann sich eines herzlichen Lachens nicht erwehren; ein Philosoph ist in ihren Augen ein sehr grämlicher, vergilbter alter Herr mit langem, grauem Haar und tausend Falten und Fältchen im Gesicht, der entsetzlich schnupft und infolgedessen blaue gedruckte Taschentücher trägt; die großen runden Brillengläser geben ihm etwas Eulenhaftes und er geht stets gesenkten Hauptes und trägt die Arme mit dem Stock auf dem Rücken. So hatte der Rektor eines Breslauer Gymnasiums ausgesehen, der für die Pensionatsfräulein, an deren traditionellem Gänsemarsch er zuweilen achtlos vorüberschoß, ein Gegenstand der Furcht und doch auch des heimlichen Gekichers war und von dem die Sage ging, er sei ein großer Kenner aller philosophischen Systeme und habe noch auf dem Totenbette von seinem eigenen Systeme gefaselt, das nun leider Unvollendet bleiben müsse. Und nun sollte ihre sanfte, stille, geduldige Martha mit dem tiefdunkeln großen Augenpaar und dem reichen schwarzen Haar, das freilich an den Schläfen bereits die ersten feinen silbernen Fäden zeigte, eine Philosophin sein! Wie drollig das war und was für wunderliche Einfälle Leontine doch zuweilen hatte! Mit ihrer ganzen Lebhaftigkeit ruft Emmy der noch immer anscheinend teilnahmlos am Fenster Sitzenden zu:

„Aber, Martha, so sage doch nur auch einmal ein Wort! Leontine behauptet, Du wärst eine Philosophin und Du mußt mir helfen, sie zum Widerruf einer so schnöden Behauptung zu nötigen, die doch unmöglich begründet sein kann. Es wäre doch zu schrecklich, wenn eines schönen Tages statt des Gefangenen von Chillon und des Child Harold u. s. w. die Kritik des reinen Verstandes, oder wie das gelehrte Buch hieß, auf Deinem Nähtisch läge (ich glaube gar, das giebt es gar nicht mit Goldschnitt), wenn Du anfingst, aus einer großen Horndose zu schnupfen und blaue Taschentücher zu tragen. Man könnte Dir ja dann kaum noch einen Kuß geben, und wollte man es selber thun — am Ende litte es gar Deine Würde nicht und mit meiner Hoffnung, daß

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_08.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)