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Ueber dem von waldigen Höhen umschlossenen und aus der Enge des Thalkessels mit einigen verstreuten Häuschen an ihnen emporkletternden kleinen schlesischen Fabrikstädtchen M. brütete die eigentümliche Schwüle eines Aprilabends. Aus wolkenverhangenem Himmel fiel ab und zu ein Tropfen und über den Bergen zuckte es zuweilen hastig auf von fernem Wetterleuchten. An solchen Abenden fühlt sich der eine vom warmen Atem des kommenden Frühlings angehaucht und hofft, am nächsten Morgen das erste Veilchen zu finden — der andere wieder fühlt sich bedrückt und fast beängstigt von der feuchtwarmen Treibhausluft und es ist ihm, als entspreche dem Drängen und Treiben in der Natur, dem Steigen der Säfte und dem Schwellen der Knospen ein unklares, stürmisches Gären in seiner Seele. Wie die Natur nicht auf jeden wirkt, so wirkt sie auch nicht auf alle gleich — schon die kleine Gesellschaft, in die ich meine Leser führen will, wird dies bestätigen.

Wir sind in der Dämmerung durch die Gassen geschlendert und haben wohl ab und zu den jungen Mädchen ausweichen müssen, die Arm in Arm und gassenbreit (das wollte freilich in M. nicht allzuviel sagen) singend daher kamen; von der eintönigen Fassade und den nüchtern-langweiligen Fensterreihen der mechanischen Weberei des Kommerzienrats Reischach wenden sich unsere Augen unwillkürlich dem gegenüberliegenden Wohnhause zu, der steinernen Verkörperung einer Baumeistergrille, die nur ein ungebildeter Glückspilz mit den Anforderungen des guten Geschmacks in Einklang zu bringen und deren Kosten nur die Kasse eines so reichen Mannes, wie es der Herr Kommerzienrat war, gleichgültig finden konnte. In das Haus selber, das uns durch seine wunderliche, fast schrullenhafte, und jedenfalls verzwickte Bauart ein ironisches Lächeln abnötigt, dürfen wir freilich nicht treten; man schreitet über diese teppichbelegte eiserne Wendeltreppe, die in der Vorhalle ein Gitter absperrt, nur empor, nachdem man durch den Portier gemeldet ist. Aber kraft meines Vorrechtes als Dichter sehe ich durch dicke Mauern und schwere, seidene Portièren und belausche auch ungesehen die drei Damen, die in dem Zimmer des Fräulein Emmy ihr Dämmer- und Plauderstündchen halten.

Fräulein Emmy, des Kommerzienrats verzogener und verwöhnter Liebling, war eigentlich schlichtweg Emma getauft, da Herr Reischach zur Zeit ihrer Geburt noch nicht reich, also auch noch nicht Kommerzienrat und Ritter des roten Adlerordens war — aber später, in der Pension, hatte sie den aparten Namen ihrer Mitschülerinnen gegenüber

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_03.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)