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Walther Kabel: „Ehrliche Leute!“ (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 12)

erscheinen ließen, kaum drei ihren Fund abliefern würden. Es kam bei der Debatte über diese die Ehrlichkeit unserer Mitmenschen so stark in Zweifel ziehende Äußerung zu einer Spaltung unseres Stammtisches in zwei Lager, und schließlich endete der Disput mit einer Wette, die die Partei des Rechtsanwalts den anderen vorgeschlagen hatte, und die auch nach genauer Festlegung der Bedingungen angenommen wurde. Das Experiment, das wir unternehmen wollten, wurde viel belacht, entbehrte dabei jedoch keineswegs einer sehr ernsten Seite, da es sich dabei sozusagen um eine Stichprobe auf die menschliche Ehrlichkeit handelte. Eine Geldsammlung unter uns ergab 200 Mark, mit deren wahrscheinlichem Verlust wir rechnen mußten. Die Summe wurde, nachdem zehn nicht allzu teure Geldtäschchen eingekauft waren, in zehn gleich große Teile geteilt und diese Teilsumme in Gold, Silber und Nickel in die Geldbörsen getan, worin sich außerdem noch neben anderen Kleinigkeiten Zettel befanden, auf die der Einfachheit halber stets derselbe Name nebst Adresse geschrieben wurde, und zwar der des Kellners, der unseren Stammtisch seit Jahren bediente. Sodann wurden von jeder der wettenden Parteien zwei Herren bestimmt, die an einem Vormittag im Tiergarten die Börsen nacheinander auf wenig begangenen Seitenwegen auslegen und von ferne hinter Gebüsch verborgen den Erfolg abwarten sollten. Es kam uns nämlich darauf an, festzustellen, wie sich die einzelnen Finder der Geldtäschchen, die infolge der darin enthaltenen Adresse leicht dem Eigentümer wieder zugestellt werden konnten, falls sie nicht als Fundsache auf der Polizei abgeliefert wurden, in jedem Falle verhalten würden. Der Plan gelangte unter Anwendung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln, damit die Finder sich vollständig sicher wähnten, an einem sonnigen Oktobervormittag wirklich in der angegebenen Weise zur Ausführung. Das Resultat dieser ‚Ehrlichkeitsprobe‘ war höchst betrübend. Die Partei des Rechtsanwalts gewann glänzend, da nur zwei der Börsen, eine bei der Polizei, die andere bei dem Kellner, abgegeben wurden. Diese ehrlichen Finder waren zwei ältere Herren, die gemächlich den Weg entlanggekommen waren, die Geldtäschchen bemerkt und zu sich

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Walther Kabel: „Ehrliche Leute!“ (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 12). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ehrliche_Leute!.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)