Textdaten
Autor: Walther Kabel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: „Ehrliche Leute!“
Untertitel:
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Zwölfter Band, Seite 221–225
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[221] „Ehrliche Leute!“ – Ein englischer Juwelier veröffentlichte unlängst in einer Fachzeitschrift, natürlich ohne seinen[222] Namen zu nennen, unter diesem Titel eine Plauderei, die das bekannte Wort „Gelegenheit macht Diebe“ nur allzu berechtigt erscheinen läßt. Er schreibt: „Mein Prüfstein der Ehrlichkeit war ein schöngeschliffener, mittelgroßer Brillant, den ich mit einem vorzüglichen Klebstoff fest auf die Glasplatte des Verkaufstisches aufgeleimt hatte, und zwar so, daß er bequem zu erreichen war. Es sah genau so aus, als ob der Brillant versehentlich liegen geblieben sei, halb verdeckt durch ein schwarzes Samttuch, wie wir es zum Ausbreiten der Waren benützen. Ich habe dann durch diesen ,liegen gebliebenen Stein‘ in zwei Wochen mehr Menschenkenntnis gesammelt, als mir dies bisher in den ganzen fünfundzwanzig Jahren meiner geschäftlichen Tätigkeit möglich war. Zu meinen Kunden zählen Damen und Herren aller Berufsstände. Sorgfältig notierte ich mir nun in den vierzehn Tagen, die ich den Stein an seinem Platze ließ, das Verhalten jedes einzelnen Käufers. Von den rund dreihundert Besuchern meines Geschäftes haben dreiundfünfzig von dem Brillanten keine Notiz genommen, ihn vielleicht gar nicht bemerkt. Siebenundsechzig waren so liebenswürdig, mich auf das ‚liegen gebliebene‘ Kleinod aufmerksam zu machen, wofür ich mich dann regelmäßig mit einer aus aufrichtigem Herzen kommenden Freude bedankte. Die übrigen Käufer dagegen haben ohne Ausnahme, häufig in der raffiniertesten Weise, versucht, den Brillanten heimlich mitgehen zu heißen, um mich milde auszudrücken. Unter diesen Leuten waren Damen in der überwiegenden Mehrzahl vertreten, viele mit hochgeachteten Namen, schwerreich und unnahbar wie Königinnen. Vor meinem Prüfstein sanken all die guten Grundsätze, die ich doch als vorhanden annehmen mußte, wie ein Kartenhaus zusammen. Eine langjährige Kundin, die mich sonst kaum mit leichtem Neigen des schön frisierten Hauptes zu begrüßen pflegte, legte ihr Täschchen plötzlich auf den Brillanten und wurde dann so gesprächig, wie sie es nie zuvor gewesen – freilich nur zu dem Zweck, um meine Aufmerksamkeit abzulenken. Die feinbehandschuhte Rechte, die nachher scheinbar nach dem Täschchen griff, bemühte sich jedoch vergeblich, meinen ‚Prüfstein‘ von der Platte zu entfernen. Diesen Trick mit dem[223] Täschchen probierten achtundvierzig Damen. Weit häufiger wurde jedoch von Herren und Damen mit dem Taschentuch, das man ‚zufällig‘ über den Stein deckte, operiert. Zusammengelegte Handschuhe waren bei den diebischen Griffen als Deckmantel, wenn man so sagen darf, weniger beliebt, da sie die ‚arbeitenden‘ Finger nicht genügend vor aufmerksamen Blicken schützten. Dagegen wurden mitgebrachte Päckchen schon wieder häufiger angewendet. Mehrfach erschienen Kunden, die beim ersten Vesuch die Gelegenheit zu einem kleinen Griff nach dem ‚liegen gebliebenen‘ Brillanten nicht für günstig erachtet hatten, an demselben Tage sehr bald wieder im Laden, kauften eine Kleinigkeit, verrieten aber zumeist durch eine gewisse nervöse Unruhe, welchen Zweck sie in Wahrheit verfolgten. Jedenfalls hat es bisweilen mir und meinem Personal die allergrößte Anstrengung gekostet, unsere Heiterkeit angesichts dieser kleinen Diebesmanöver zu verbergen, die auf die Eingeweihten notwendig recht komisch wirken mußten. Diese meine Beobachtungen zeigen, daß unser moderner Satyriker Bernhard Shaw nicht ganz unrecht hat, wenn er sagt: ‚Wir Menschen sind sämtlich zu Dieben und Betrügern geboren. Wenn es trotzdem so viele ehrliche Menschen zu geben scheint, liegt dies lediglich daran, daß ein großer Prozentsatz das Stehlen und Betrügen nicht nötig hat, ein noch größerer sich dabei nicht abfassen läßt, und nur wenige so dumm und so ungeschickt dabei sind, der Polizei und dem Gericht Beschäftigung zu geben.‘“ –

An dieser Stelle mag auch noch eine Geschichte berichtet werden, die auf ein verwandtes Gebiet, das der „ehrlichen Finder“, überspielt. Vor zwanzig Jahren gab es in einer bekannten Künstlerkneipe in Berlin einen Stammtisch, zu dem viele Schauspieler, Schriftsteller und auch einige Vertreter anderer Berufe gehörten. „Eines Tages,“ so erzählt ein berühmter Opernsänger in seinen Erinnerungen, „verirrte sich das Gespräch an unserem Stammtisch auf ein Gebiet, das uns harmlos frohen Menschen eigentlich recht fern lag: das der menschlichen Ehrlichkeit. Nach vielem Hin und Her behauptete der Rechtsanwalt St., daß von zehn Personen, die Bargeld unter Umständen fänden, die eine Entdeckung als ziemlich ausgeschlossen[224] erscheinen ließen, kaum drei ihren Fund abliefern würden. Es kam bei der Debatte über diese die Ehrlichkeit unserer Mitmenschen so stark in Zweifel ziehende Äußerung zu einer Spaltung unseres Stammtisches in zwei Lager, und schließlich endete der Disput mit einer Wette, die die Partei des Rechtsanwalts den anderen vorgeschlagen hatte, und die auch nach genauer Festlegung der Bedingungen angenommen wurde. Das Experiment, das wir unternehmen wollten, wurde viel belacht, entbehrte dabei jedoch keineswegs einer sehr ernsten Seite, da es sich dabei sozusagen um eine Stichprobe auf die menschliche Ehrlichkeit handelte. Eine Geldsammlung unter uns ergab 200 Mark, mit deren wahrscheinlichem Verlust wir rechnen mußten. Die Summe wurde, nachdem zehn nicht allzu teure Geldtäschchen eingekauft waren, in zehn gleich große Teile geteilt und diese Teilsumme in Gold, Silber und Nickel in die Geldbörsen getan, worin sich außerdem noch neben anderen Kleinigkeiten Zettel befanden, auf die der Einfachheit halber stets derselbe Name nebst Adresse geschrieben wurde, und zwar der des Kellners, der unseren Stammtisch seit Jahren bediente. Sodann wurden von jeder der wettenden Parteien zwei Herren bestimmt, die an einem Vormittag im Tiergarten die Börsen nacheinander auf wenig begangenen Seitenwegen auslegen und von ferne hinter Gebüsch verborgen den Erfolg abwarten sollten. Es kam uns nämlich darauf an, festzustellen, wie sich die einzelnen Finder der Geldtäschchen, die infolge der darin enthaltenen Adresse leicht dem Eigentümer wieder zugestellt werden konnten, falls sie nicht als Fundsache auf der Polizei abgeliefert wurden, in jedem Falle verhalten würden. Der Plan gelangte unter Anwendung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln, damit die Finder sich vollständig sicher wähnten, an einem sonnigen Oktobervormittag wirklich in der angegebenen Weise zur Ausführung. Das Resultat dieser ‚Ehrlichkeitsprobe‘ war höchst betrübend. Die Partei des Rechtsanwalts gewann glänzend, da nur zwei der Börsen, eine bei der Polizei, die andere bei dem Kellner, abgegeben wurden. Diese ehrlichen Finder waren zwei ältere Herren, die gemächlich den Weg entlanggekommen waren, die Geldtäschchen bemerkt und zu sich[225] gesteckt hatten. Die übrigen unehrlichen Finder verteilten sich auf folgende Berufsstände: Zwei Bonnen, die Kinderwagen vor sich herschoben, eine Spreewälderin mit einem kleinen Knaben an der Hand, zwei gutgekleidete Damen, offenbar den ‚besseren‘ Gesellschaftsschichten angehörend, ein jüngerer Mann in blauer Arbeiterbluse, ein Offiziersbursche mit einer Markttasche und schließlich ein junger Mensch mit einer großen Mappe unter dem Arm. Recht charakteristisch war das bei diesen acht Personen völlig gleiche Verhalten bei Wahrnehmung der Börsen: alle schauten sich erst vorsichtig um, bevor sie den Fund möglichst harmlos aufrafften. Die beiden Damen und eine der Bonnen ließen sogar noch vorher Gegenstände – Taschentücher und eine Kinderklapper – fallen, um den Griff nach den Börsen zu bemänteln. Dieser ‚Scherz‘ hatte uns 164 Mark gekostet, lieferte uns dafür aber auch außer dem Sekt, den die verlierende Partei bezahlen mußte, einen höchst wertvollen Beitrag zur Kenntnis der menschlichen Psyche.“
W. K.