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Sein und Zeit

erörtert werden müssen. Aber zunächst bedarf die Frage des Verfalls noch weiterer Klärung.

Nicht das Leben in Gemeinschaft als solches und das Sichführenlassen als solches ist Verfall, sondern das unterscheidungslose Mitmachen auf Kosten des eigentlichen Lebens, zu dem man berufen ist, unter Überhörung des Gewissensrufes. Soweit das Dasein verfallen ist, ist es weder echtes Einzelleben noch echtes Gemeinschaftsleben. Es berührt nun sehr merkwürdig, wenn Heidegger erklärt, das verfallene Dasein dürfe nicht als Fall aus einem reineren und höheren Urstand aufgefaßt werden[1]. Welchen Sinn hat es denn, von Verfall zu sprechen ohne Hinblick auf einen Fall? (Es entspricht genau dem Geworfensein ohne einen Wurf.) Auch die vorausgeschickte Begründung ist wenig beweiskräftig: Weil das verfallene Sein (es wird geradezu Nicht-sein genannt) die nächste Seinsart des Daseins sei, in der es sich zumeist halte, dürfte das Verfallensein nicht als Fall gedeutet werden. Wenn das durchschnittliche, alltägliche menschliche Sein als verfallenes gekennzeichnet ist, so ist das nur möglich in der Abhebung gegenüber einem eigentlichen Sein, von dem wir auch Kenntnis haben müssen. Und im Verhältnis zum verfallenen ist das eigentliche Sein das seinsmäßig ursprünglichere.

Es ist eine weitere Frage, wie das zeitliche Verhältnis aufzufassen ist. Die Sachlage ist bei Heidegger verdunkelt, weil er den Unterschied zwischen dem Durchbruch von einer früheren Entwicklungsstufe zum eigentlichen Sein und der Rückkehr von einem Entartungszustand nicht berücksichtigt. Von der Unvollkommenheit einer früheren Entwicklungsstufe ist der Aufstieg zu einem vollkommeneren Sein in der natürlichen Ordnung möglich. Aus einem entarteten Zustand aber kann kein vollkommener nach der natürlichen Ordnung hervorgehen. Jeder Verfall setzt einen Fall auch zeitlich voraus: nicht unbedingt im Dasein des Einzelnen, aber als geschichtliches Ereignis, unter dessen Auswirkungen er steht. Die besondere Art des Falls, wie wir sie aus der Offenbarung kennen, ist daraus nicht abzuleiten. Wir dürfen aber sagen, daß die kirchliche Lehre vom Sündenfall die Lösung des Rätsels ist, das sich aus Heideggers Darstellung des verfallenen Daseins ergibt.

Woher stammt nun die geforderte Kenntnis eines eigentlichen


  1. Vgl. Sein und Zeit, S. 176 (im Vorausgehenden S. 75).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)