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lebhafter philosophischer Diskussion. Der Hauptreiz war natürlich, unsere Professoren in Kostümen zu sehen und mit ihnen zu tanzen. Es war zur Zeit des Konfliktes zwischen Türkei und Italien: Stern kam als Türke, seine Frau als Italienerin. Kühnemann trug ein griechisches Gewand und einen Kranz auf dem Haupt. Er stellte sich als „Speusippos“ vor. „Er sagt Speusippos“, bemerkte ich boshaft, „aber er meint Plato“. Ich war als Holländerin gekleidet und mußte mir wiederholt anhören, daß mir das sehr gut stünde. Else Heß versicherte mir mit der sachkundigen Miene der erfahrenen Balldame, daß ich „sehr gut gefiele“. Das war mir sehr unsympathisch. Ich tanzte auch jetzt noch sehr gern. Aber ich mochte es lieber, wenn wir es zu Hause zwanglos improvisierten, als diese offiziellen Veranstaltungen. Erna und ich haben wenig Bälle besucht, und wenn wir nach so einem Abend heimkamen, sagten wir beim Zubettgehen zueinander: „Gott sei Dank, daß dies nicht unser Lebensinhalt ist“.

Zu diesen regelmäßigen Veranstaltungen kam gerade in meinem ersten Semester, dem Sommer 1911, noch manches Außerordentliche. Wir feierten damals das 100jährige Jubiläum unserer „Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität“. Sie war 1811, in der Zeit der Franzosenherrschaft von Friedrich Wilhelm III. begründet worden, nicht als völlige Neugründung, sondern durch Zusammenlegung der protestantischen Universität Frankfurt a/O., einer Schöpfung der Reformationszeit, mit dem Breslauer Jesuitenkolleg, der „Leopoldina“, von Kaiser Leopold zu Ende des 17. Jh.’s eingerichtet. Ihr verdankten wir das schöne alte Gebäude mit den dicken Mauern und tiefen Fensternischen, dem üppigen Barockschmuck der „Aula Leopoldina“ und des Musiksaals. Wie festlich waren offizielle Feiern – Kaisers Geburtstag, Rektoratsübergabe u.dgl. – in diesen Räumen, wenn zu der Farbenpracht der Wand- und Deckengemälde und der reichen Stuckverzierung das bunte Bild der Studenten „in Wichs“ kam, der Chargierten, die mit ihren Fahnen die Fensternischen füllten, und wenn schließlich der ganze Lehrkörper einzog, voraus der Pedell mit seinem dicken Stabe, hinterdrein der Rektor, die Dekane und Dozenten mit Talaren und Barets in der Farbe ihrer Fakultät, manche noch mit einer breiten bunten Schärpe über der Brust, dem Abzeichen des Ehrendoktorats (meist von amerikanischen Universitäten)!

Das alte graue Gebäude an der Oder (vor einigen Jahren hat man es „im Stil der Zeit“ gelb angestrichen) war mir schnell eine liebe Heimat geworden. In freien Stunden setzte ich mich gern in einen leeren Hörsaal auf eins der breiten Fensterbretter, die die tiefen Mauernischen ausfüllten, und arbeitete dort. Von diesem Hochsitz

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/150&oldid=- (Version vom 31.7.2018)