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Der Sitz der Regierung, der Durbar, ist in den drei Hauptstädten Nepals ein überaus weitläufiges Gebäude, in, dessen Innerem ein Zurechtfinden für den Fremden wegen der zahllosen Höfe schlechterdings unmöglich ist. Über dem von der Straße hineinführenden Haupttor ist auch in Patan ein dem nepalischen Baustil eigentümlicher bogenförmiger Aufsatz aus Gold angebracht, in dem in getriebener Arbeit zahlreiche mythologische Figuren und Sinnbilder dargestellt sind. Auch die seitlichen Türsäulen und die als Torwächter aufgestellten Leogryphen ergeben mit den reichgeschnitzten Holzfenstern über dem Tor und dem von einem drolligen Gottheitsbilde gekrönten Doppeldach eine auffallende dekorative Wirkung. Da die Herrscher Nepals dem brahminischen Zweige der Newaris angehörten und nicht gleich der Hauptmasse von etwa zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung dem buddhistischen, haben sie in der Nähe ihres Durbars nur Tempel ihrer Glaubensrichtung erbaut und geduldet, so daß die sofort an ihrer halbkugelförmigen Kuppel, der Tope, oder dem Garb[WS 1] kenntlichen buddhistischen Tempel zumeist in den Vorstädten ihren Platz gefunden haben, während die großen Plätze durch Newaritempel mit in drei oder vier Etagen übereinander angebrachten Dächern geziert sind.

Standbild des Königs Narendra Mullah und seiner Gemahlin.[WS 2]

Säule mit Garuda-Figur vor dem brahminischen Dschain-Tempel in Patan.[WS 3]

Die allermerkwürdigsten Ausschmückungen der Hauptstraße in Patan sind jedoch einige der Zerstörung entgangene hohe Säulen, deren sehr eigenartige, an eine sich entfaltende Lotosknospe erinnernde Kapitäle als Sockel für riesige Bronzefiguren dienen; diese stellen entweder Newari-Könige vor, die den Tempel, vor dem sie aufgestellt sind, erbaut haben, oder den Göttervogel Garuda, jenes fabelhafte, mit Vogelgefieder, häufig auch mit einem Papageiengesicht ausgestattete Wesen mit menschlichen Gliedmaßen, das als Vermittler zwischen der Gottheit und den Bitten der Menschen angesehen wird und deshalb ebenfalls gegenüber einem Tempelzugang in betender Stellung angebracht ist. Überaus bezeichnend für die bei den brahminischen Völkern übliche Anschauung von der überlegenen Begabung des Mannes ist auf einem derartigen Denkmal die neben dem knieenden Newarikönig Narendra Mullah ebenfalls in betender Stellung dargestellte Königin nicht in demselben, sondern in einem beinahe winzigen Maßstabe ausgeführt, so daß das Denkmal trotz der die Herrschergewalt andeutenden ungeheuren, hinter dem hohen Paar kerzengerade emporsteigenden fürchterlichen Kobraschlange für unser Gefühl eine etwas komische Wirkung erzielt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Tope, Garb: Tope meint Stupa, Garb(a) meint wohl vedisch dhātu-garbha (vgl. auch Dagoba) und wäre dann synonym zu Tope
  2. WS: Narendra Mullah: vergleiche Yogendra Malla (Bilder)
  3. WS: Dschain-Tempel: vergleiche Krishna Mandir (Bilder)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/347&oldid=- (Version vom 2.7.2018)