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Die Tore und Befestigungen der nepalischen Städte sind jetzt gefallen, aber noch immer besteht die Sitte, daß sich Leute ohne Kaste, vor allem Ausfeger, Metzger und Scharfrichter, wie in Indien am Rande der Vorstädte niederlassen müssen, weshalb ein Gang um die Stadt meist nur Bilder der Dürftigkeit bietet.

Unstreitig ergeben in Katmandu die Straßen und Märkte, die Paläste und Gerichtshöfe überaus malerische Szenen, ja nicht zu vergessen die Tempel, unter denen ich den Talliju[WS 1] für den schönsten und besterhaltenen Hindu-Tempel, den Bodhmandal- und Kathisambu-Tempel[WS 2] für die eindrucksvollsten buddhistischen halte, während der Mehenkal-Tempel[WS 3] von Hindus wie Buddhisten als ihrem Kult zugehörig beansprucht und besucht wird; doch werden diese Eindrücke in den beiden anderen Newariresidenzen Patan und Bhatgaon für den Europäer dadurch noch weit ungewöhnlicher und merkwürdiger, daß dort auch nicht eine Spur von europäischem Einfluß zu verspüren ist.

Warum ich während meines Aufenthalts in den Städten Nepals keine einzige andere europäisch gekleidete Gestalt zu Gesicht bekommen konnte, habe ich bereits im neunzehnten Kapitel auseinandergesetzt. Es konnte daher nicht fehlen, daß ich überall einen sehr unliebsamen Troß von neugierigen Jungen um mich hatte, die mir namentlich bei meinen Aufnahmen durch ihr dichtes Herandrängen an den Apparat oder dadurch lästig fielen, daß sich die zuerst scheuen, allmählich aber immer übermütiger werdenden Burschen rittlings auf die Steinfiguren der Löwen, Elefanten und Ungeheuer setzten, die neben den zu den Hindutempeln emporführenden Treppen stehen. Zum Glück ließ sich der eine meiner beiden Wächter für Geld und gute Worte bestimmen, seine Aufmerksamkeit vor allen Dingen darauf zu richten, daß mir das Volk soweit wie möglich vom Halse blieb, aber immerhin sieht dadurch zum Beispiel die von mir hier abgebildete Hauptstraße in Patan weit volkreicher ans als sie gewöhnlich ist.

Hauptstraße in Patan.[WS 4]

In Patan, das nur etwa drei Kilometer von dem südöstlichsten Ende Katmandus entfernt ist, wußte ich tatsächlich nicht, wo ich meine Augen zuerst hinwenden sollte, so unwiderstehlich sind die malerischen Reize dieser Stadt! Allerdings ist der Aufenthalt darin wegen der grenzenlosen Unsauberkeit so entsetzlich, daß mir daneben das auch nicht etwa reinliche Katmandu mit seiner Wasserleitung und mit seinen Anläufen von Kanalisation und Straßenpflaster fast wie ein Himmel erschien. Die in der Stadt gerade mit wütender Heftigkeit grassierende Cholera trug auch nicht dazu bei, Patan gemütlicher zu machen. Die Einwohnerzahl von etwa 60 000 Seelen mag wohl bei beiden Städten gleich sein, aber trotzdem hat man sofort das Gefühl, daß Patan eine tote Stadt und für die jetzigen Bewohner viel zu groß ist, weil sich der ganze Verkehr der Hauptstadt Katmandu zugewendet hat. Man spürt, daß sich die Stadt selbst heute noch nicht von dem grauenhaften Blutbade erholt hat, das hier

1768 durch die siegreichen Gorkhas unter Prithi Narayan[WS 5] veranstaltet wurde, der alle früheren Newarireiche mit dem Wohnsitz der Gorkhas, der nach

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Talliju: vergleiche Taleju Temple
  2. WS: Bodhmandal- und Kathisambu-Tempel: waren zwei Chaityas/Schreine (?) mit angrenzendem Vihara im Viertel Lagan Tole und nach dem Bericht von Lt. Col. George Hart Desmond Gimlette (Nepal and the Nepalese) aus den 1880er Jahren in „ruinösem Zustand“.
  3. WS: Mehenkal: Mahankali ist ein Avatar von sowohl Mahandeva-Shiva wie Kali, siehe auch Anmerkung zu Kal Bhairav. Nach Gimlette war dieser Tempel klein und sehr alt.
  4. WS: im Bild links der Krishna-Tempel.
  5. WS: Prithi Narayan: vergleiche Prithvi Narayan Shah (regierte 1768-1775)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/342&oldid=- (Version vom 2.7.2018)