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Deutsche die Wundertat daheim nicht hoch genug preisen! Kriecht die Schlange eines Gauklers geschwind in ein Loch an einem Bambusrohr, so glaubt er, sie sei vor seinen Augen „verschwunden“, während in Europa mit überlegener Miene sofort erklärt würde, sie sei „eskamotiert“[WS 1] worden — so stark ist bei vielen von uns der Drang, dem Heimischen das Fremde vorzuziehen.

Mit denselben Fingern, deren Spitzen nach dem Munde greifen, um mit vieler Umständlichkeit einen ganz kleinen Gegenstand, z. B. eine Erbse, recht deutlich hineinzustecken, schiebt der Zauberer heimlich, aber ganz dreist, irgend einen weit ansehnlicheren mit der Fläche dieser Hand bedeckten in die Mundhöhle, z. B. ein geschältes, hartgesottenes Hühnerei, das er dann im Munde behält. Durch geschickt gespielte Magenbeschwerden und durch Herumzerren an der zeitweilig aus dem Mund hervorgestreckten weißen Eispitze stimmt der Zauberer seine naiven Zuschauer so mitleidig, daß sie gar nicht daran denken, seine Hand zu beachten, die inzwischen einem Versteck heimlich ein Ei nach dem anderen entnimmt, dieses mit geschlossener Hand emporhebt und den Eindruck hervorbringt, es sei dies jedesmal das vorgestreckte, in Wirklichkeit aber immer wieder in die Mundhöhle zurückgezogene Ei! Jedem erscheint die unerschöpfliche Masse von Eiern, die solcher Art aus dem Magen des Übermenschen heraufzusteigen scheinen, bei der ersten Vorstellung dieser Art höchst rätselhaft. Auch das ungemein einfache, aber stets wirksame Kunststück, Eier oder andere Gegenstände aus einer leeren Tasche herauszunehmen, trotzdem der Magier darauf herumgetreten hatte, ist eine uralte Nummer der indischen Gaukler, die der Taschenspielerei diesen Namen gegeben hat. Das Befreien aus einem Sacke, in den sich der Wundermann einbinden und einsiegeln läßt, das Verwandeln von Reis in Milch oder das Kochen von Reis in kaltem Wasser, das Steigen- und Fallenlassen einer an einer Schnur schwebenden durchbohrten Hohlkugel, das Hervorquetschen von Wasser aus Steinen, das Erscheinenlassen von lebenden und gebratenen Tauben und andere Künste unserer Zauberer, die ich nicht erklären will, um diesen oft ungemein fleißigen Künstlern nicht Brot und Ansehen zu schmälern, sind die Gipfel der Leistungen indischer Magier, denen jetzt ihre europäischen Kollegen ganz entschieden „über“ sind.

Einen höchst verführerischen Trumpf spielte einmal einer dieser indischen Künstler mir gegenüber mit der Frage aus; wieviel Rupien ich für das Erlernen der Kunst zahlen wolle, die eigene Zunge abzuschneiden. Sofort wagte ich eine halbe Rupie für dieses unter Umständen zweifellos sehr nützliche Mittel anzulegen, dem allzu mitteilsamen Mund Schweigen zu gebieten. Mit diebischem Lächeln schnipselte mein Tausendsassa alsbald aus dem weichen roten Fleische einer Melone ein zungenähnliches Stück zurecht, das er eine Zeitlang geschickt im Munde verbarg, um es dann gelegentlich wie in scheinbarer Verzweiflung ein wenig aus dem Munde herauszustrecken, an der Spitze zu ergreifen und schnell abzusäbeln. Auf ein Hölzchen gespießt hielt er die scheinbare Zunge dann triumphierend dem verehrten Publikum, will sagen meiner Wenigkeit, unter die erschreckten Augen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: eskamotiert: wegmanipuliert - vergleiche escamotage (fr)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/124&oldid=- (Version vom 1.7.2018)