Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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Sie wanderten, umweht von Lindenblüten,
Dem Walde zu, der wonnig sie empfing.
Wie Kinder, die der Schule Zwang entflohn,
Durchzogen sie die grüne Einsamkeit.
Und wo der Kukuk rief. So weltenfern
Nahm sie ein dämmernd Dickicht endlich auf.
Wie herrlich schien ihr dieser Tag des Herrn!
Die Stunden rückten vor, und Mittagschwüle,
Da richteten sie sich ein lauschig Lager
An einem Hang und sanken bald in Schlaf.
– Von fernem Dorfe zog durch ihren Traum
Ein Glockenklang in zitternd leichten Wellen,
– Als er erwachte, lag sie sanft erglüht
Und lächelnd noch in halbem Traum befangen,
Ein holdes Wesen aus der Märchenzeit!
Und doch – wie irdisch schön in Fleisch und Blut;
Ihn bannte herrisch eine dunkle Macht.
Die eignen Pulse hört er stürmisch jagen!
Der jugendfrommen Minne milde Glut,
Sie schlug begehrend auf in loher Flamme! –
Um Gut und Böse tobte noch der Kampf
In seiner Brust. – Dann sprang er jählings auf
Und riss sie zu sich hin in toller Lust,
Sie an sich pressend, dass sein brennend Herz
Berauschend heisse Liebesworte raunt
Sein Mund ihr stammelnd zu, verführerisch
Wie sie nur je erdacht ein trunkner Sinn. – –
Sie bebt, sie ringt, ihr Blick wird starr und gross –
Sie fasst nicht, was sie hört; wie giftigen Hauch
Verspürt sie es in seines Atems Wehen –
Da endete des Glückes letzte Spur!
»O Mutter, Mutter!« ringt sich endlich los
– Was kümmern sie der Buchen schlanke Gerten,
Die ins Gesicht ihr schlagen, was die Ranken,
Die straucheln lassen ihren flüchtigen Fuss.
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/323&oldid=- (Version vom 31.7.2018)