Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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Die Kinder in dem ganzen Haus,
Und über die blassen, ernsten Gesichter
Fliegt es dahin wie Sonnenlichter.
Sie tanzen und wiegen sich hin und her
In der Kellerthür steht ein schlumpiges Weib,
Ihr hängen die Kleider um den Leib,
Den Säugling hält sie auf dem Arm,
In ein Wollentuch gewickelt warm.
Und mit den magern Aermchen schlägt,
Ist über die vergrämten Wangen
Ein Strahl von Mutterfreunde gegangen.
Das »Mädchen für alles« im ersten Stock,
Und trällert den Text und dreht sich und lacht:
An den blauen Dragoner hat sie gedacht.
Er war so unbeschreiblich flott
Und tanzte den Walzer wie ein Gott.
Und wartet auf den Segen von oben. –
Dann kommt – das hört ja ein jeder gern:
»Einst spielt’ ich mit Zepter, Krone und Stern!«
Der arme Schreiber in seiner Kammer
Er lässt die kritzelnde Feder stehn
Und seinen Blick zu den Wolken gehn,
Die über die Dächer dahingezogen.
So hoch sind einst seine Träume geflogen
»O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!«
Der Leiermann dreht seine Kurbel um,
Seine Blicke wandern ringsherum.
Ein andres Stück nun stellt er ein:
Die Nähterin lässt die Maschine stehn,
Und ihre Traumgedanken gehn
Zum letzten Roman, den sie gelesen:
Wie edel ist doch der Graf gewesen,
Obgleich es doch fast zur Enterbung kam.
Dann seufzt sie. Ach, sie weiss, wie es geht:
Die edlen Grafen sind dünne gesät!
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/304&oldid=- (Version vom 31.7.2018)