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Verschiedene: Die zehnte Muse

Doch vom Professor mit Scharfsinn erkannt,
„Der Schüttelfrost und die nächtlichen Schweisse,

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So wahr ich ein Professor heisse,

Erscheinung des Recurrensspirills
Und dann die bedeutende Schwellung der Milz –
Ein Stümper, wer diese Zeichen verkennt:
Am Hungertyphus starb der Patient!“

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Mit diesen Worten bog sich zur Seite

Der Professor und legte die Eingeweide
Des sanft entschlafenen Diätars
(Ein schrumplig ärmliches Päckchen war’s)
In eine Schüssel mit sorglosen Händen,

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Um dann sich zum Baron zu wenden.

 
Beim Schneiden hat er durch die Zähne gepfiffen:
„Die edlen Organe sind angegriffen.
Der Rotspon, der Sekt in offener Schale,
Die Café-Chantants und die Balllokale,

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Die Weiber raffiniertester Sorten,

Die Trüffelpasteten und schweren Importen,
Das Nächtedurchwachen, das Zechen und Lieben
Hat diesen Körper allmählich zerrieben,
Bis sehr begreiflicher Weise zuletzt

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Das Herz seine Tätigkeit ausgesetzt."

Mit diesen Worten bog sich zur Seite
Der Professor und legte die Eingeweide
Des Reichsfreiherrn – ein Zufall war’s- –
Zu dem Leibesinhalt des Diätars.

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Die sich nun, schillernd in blutigen Krusten,

In einer Schüssel vertragen mussten.
So lag das Herz, das in Lust geglüht,
Von Sekt und prickelnden Weibern entfacht,
Dicht bei dem andern, das kummermüd'

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Vom Hungertyphus zum Stillstand gebracht . . .


Und als dann kam der Totenschrein,
Da packten die Diener die beiden ein
Und gaben jedem unter dem Schnitt
Ein Päcklein Eingeweide mit,

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Ohne zu prüfen erst hin und her,

Welches das Herz eines jeden wär’;
Wenn nur ein jeder wieder gefüllt war
Und in die üblichen Tücher gehüllt war,
Und der Pfarrer sein Wörtlein sprach –

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Keiner schaut ja im Brustkorb nach!

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Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/212&oldid=- (Version vom 31.7.2018)