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Verschiedene: Die zehnte Muse

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Beachte, wie ich meine Hand

Jetzt auf zum Licht der Sonne hebe
Und unter uns dem Wüstensand
Selbst mit den Fingern Schatten gebe:
Er scheint dir greifbar und bezirklich,

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Allein du siehst, er ist nicht wirklich;

Denn alles Wirkliche besteht,
Derweil der Schatten schnell vergeht,
Zieh’ ich die ausgestreckte Hand
Zurück ins hüllende Gewand.

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Und wie der Schatten wesenlos

ist Alles, Täuschung unsrer Sinne,
Vorstellung des Gehirnes blos,
Und nichts zu bleibendem Gewinne.
Selbst jener Glutenborn am Himmel

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Und nachts die leuchtenden Gestirne,

Das ganze atmende Gewimmel
Des Weltalls lebt blos im Gehirne,
Im Schau’n des inneren Gesichts;
Wird dies vernichtet, so bleibt Nichts.

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So sprach und ging der Lehrer weiter

Mit seinem grübelnden Begleiter,
Der, durch die Lehren ganz verwirrt,
Vom rechten Weg sich bald verirrt
Im endlos dürren Wüstenraum,

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Wo keine Quelle und kein Baum

Im Sonnenbrande Kühlung bot.
Da fernher tauchte bräunlichrot
Ein Felsblock auf, der schmal und scharf
Gerade so viel Schatten warf,

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Den Schüler vor der Glut zu schützen.

Dem Lehrer konnt’ er nichts mehr nützen,
Er kam zu spät, doch fleht’ er kläglich:
Mach Platz, die Glut ist unerträglich!
Ich kann nicht weiter vor Ermatten,

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Sei menschlich, teil’ mit mir den Schatten!

Darauf der Schüler: Du verkehrst
Die eigene Lehre: –- eben erst
Sprachst du, der Schatten sei nur scheinbar,
Nur eine Vorstellung, ein Nichts,

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Ein Bild des inneren Gesichts;

Dein Wunsch ist nicht damit vereinbar;
Dir sitzt der Schatten im Gehirne,
Mir kühlt er meine glüh’nde Stirne,
Ich find’ ihn wesentlich und wirklich,

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Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/182&oldid=- (Version vom 31.7.2018)