Seite:Die Relativitätstheorie (Petzoldt 1912).djvu/9

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

Wir können uns diese Verhältnisse zum Teil geradezu sinnenfällig nahe bringen, wenn wir die optischen Gestaltsänderungen rein deskriptiv verfolgen, die ein Körper bei Verschiebung im Raume relativ zu uns, zum Beobachter, erleidet. Wir müssen uns dabei nur von dem Gedanken losmachen, als seien jene Wahrnehmungen nur die verschiedenen „Erscheinungen“ eines und desselben „in Wirklichkeit“ unverändert bleibenden Gegenstandes. Für eine streng sachliche vorurteilslose Beschreibung ist nicht der mathematisch definierte Würfel das Wirkliche in unserem Gesichtsfelde, sondern ganz allein seine sogenannten „perspektivischen Verschiebungen“. Der niemals wahrgenommene und nicht einmal vorstellbare mathematische Würfel ist nur ein Begriff, das wichtige Hilfsmittel des „Denkens“, sich mit der Fülle der Erlebnisse jener „Verschiebungen“ abzufinden, sie „sich verständlich zu machen“, sie zu „begreifen“.

„Dem“ Würfel müssen wir also von den verschiedenen Standpunkten aus für einen und denselben Zeitpunkt verschiedene Gestalt zuschreiben, und alle diese Gestalten sind gleichberechtigte, durchaus miteinander verträgliche, sich nicht widersprechende (relative) Wirklichkeiten. Die Verkürzung und Verlängerung, die der Würfel bei relativer Entfernung und Annäherung im Radius der Bewegungsrichtung erfährt, ist analog der Veränderung des sich entfernenden oder nähernden Körpers in der Relativitätstheorie usw. Von quantitativen Verhältnissen abgesehen, besteht nur der Unterschied, daß bei jenen sogenannten perspektivischen Verschiebungen alle Dimensionen betroffen sind und daß die Gestaltsänderung bei Übergang zu relativer Ruhe nicht rückgängig gemacht wird, wie die Gestaltsänderungen in der Relativitätstheorie. Vor allem ist instruktiv, daß jede Gestaltsänderung in dem Falle jenes Würfels nur durch eine relative Ortsänderung bedingt ist.

Die Analogie geht noch weiter. Der mathematische Würfel und seine Starrheit bei der Bewegung im euklidischen Raum ist geradezu eine Theorie für die unendlich zahlreichen Einzelerfahrungen der „perspektivischen Verschiebungen“. So ist auch die in Raum und Zeit vierdimensionale Welt Minkowskis oder F. Kleins Invariantentheorie des vierdimensionalen Raum-Zeit-Gebietes gegenüber den Kollineationen der Lorentzgruppe die Theorie, der Begriff, mit dem die unendlich zahlreichen gleichberechtigten Darstellungen jedes Vorganges im dreidimensionalen Raum einheitlich zusammengefaßt werden. Nur wenn Minkowski sagt, daß „durch

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Positivismus, Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 14. Jahrgang. , Braunschweig 1912, Seite 1063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_(Petzoldt_1912).djvu/9&oldid=- (Version vom 12.6.2024)