Die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Positivismus

Textdaten
Autor: Joseph Petzoldt
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Titel: Die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Positivismus
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aus: Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 14. Jahrgang, S. 1055-1064
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Erscheinungsdatum: 1912
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Erscheinungsort: Braunschweig
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Die Relativitätstheorie
im erkenntnistheoretischen Zusammenhange
des relativistischen Positivismus;
von Joseph Petzoldt.
(Vorgetragen in der Sitzung vom 8. November 1912.)
(Vgl. oben S. 1013.)




1. Man wird sagen dürfen: Die Relativitätstheorie ist physikalisch und mathematisch so berechtigt und gesichert, wie es nur jemals eine andere Theorie gewesen ist, ohne damit sagen zu wollen, daß sie in ihrer heutigen Form eine Theorie für alle Zeiten wäre. Daß sie aber erkenntnistheoretisch schon ebenso klar und sicher dastände, kann nicht behauptet werden. Man wird sogar vermuten dürfen, daß die Reserviertheit, mit der viele Physiker ihr noch gegenüberstehen, ja die Ablehnung, die viele ihr zuteil werden lassen, eben auf dieser Unklarheit beruhen. Man hat wohl große Achtung vor den Namen ihrer Schöpfer, vor den Einstein, Minkowski, Poincaré, Planck, F. Klein, aber man traut der Sache nicht recht, weil man sie nicht recht versteht. Man bezweifelt nicht, daß man damit rechnen kann, aber man sieht nicht genügend, wie sie eine wirkliche Erleichterung der Naturauffassung gewähren soll, wo sie doch alle bisherigen Anschauungen über die Gestalt der Körper und den Gang der Uhren auf den Kopf zu stellen scheint.

Man kann auch nicht sagen, daß jene bedeutenden Theoretiker in diesem Punkte erheblich geholfen hätten, ja es ist sogar zweifelhaft, ob sie selbst eine haltbare erkenntnistheoretische Auffassung ihrer Lehre haben, da sie sich eben über die hierher gehörigen Fragen kaum äußern. Sicher aber ist, daß in den Schriften derer, die sich um ihre Verbreitung bemüht und verdient gemacht haben, gelegentlich recht unklare erkenntnistheoretische Vorstellungen laut werden.

2. Erkenntnistheoretisch ist die Relativitätstheorie bisher überhaupt nur einmal in einen großen Zusammenhang gestellt: bei Natorp[1]). Allein hier liegt eine mehrfach unrichtige Auffassung der Theorie vor, dazu überhaupt sehr bezweifelbare erkenntnistheoretische Vorstellungen auf den Gebieten der Mathematik und Physik; vor allem aber kein Eingehen auf die wichtigsten Fragen und bei scheinbarer Zustimmung doch Aufrechterhaltung eines absoluten Gebietes, wenn auch nicht unter diesem Namen, des Gebietes der reinen Mathematik und Logik[2]).

3. Zunächst muß Klarheit darüber geschaffen werden, inwiefern die von der Relativitätstheorie gelehrte Verkürzung sich vom Beobachter relativ entfernender Körper im Entfernungsradius und das Nachgehen sich von ihm ebenso entfernender Uhren als wirklich oder nur als scheinbar anzusehen ist. Hier herrscht Sichausschweigen, Unklarheit oder geradezu Irrtum.

Für denjenigen, dem der Begriff einer absoluten Wahrheit metaphysisch ist und logisch widerspruchsvoll, kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein. Wenn er die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum als konstant betrachtet und das negative Ergebnis des Michelsonschen Versuches als feststehend annimmt, dann können für ihn jene Änderungen in der Gestalt und im Uhrgange unmöglich nur scheinbar sein, er muß sie als vollwertige Wirklichkeit ansehen, falls er seinen Voraussetzungen nicht widersprechen will. Die Relativitätstheorie ist ja nur die Theorie des Michelsonschen Versuches unter Verzicht auf die Möglichkeit, absolute Bewegung zu erkennen, und unter der Voraussetzung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Was sie unter diesen Voraussetzungen lehrt, ist lediglich deren logische Konsequenz, also Wahrheit, wenn natürlich auch nur relative Wahrheit, da ja nach denselben Voraussetzungen die einzige dem Menschen überhaupt zugängliche Wahrheit eben relativ ist, auf Standorte, Beobachtungspunkte, Koordinatensysteme bezogen. Wir können auch sagen: dasselbe Maß von Wahrheit und Wirklichkeit, das wir dem Michelsonschen Versuch und dem Satz von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zubilligen, müssen wir auch den Lehren von der kinematischen Gestalt der Körper und der kinematischen Zeigerstellung der Uhren einräumen.

4. Sehr drastisch läßt sich die soeben vollzogene Aufhebung des Gegensatzes von Sein und Sinnenschein am Fall der Relativdrehung der Erde und des Fixsternhimmels klarlegen. Ein Auto, das auf einem Parallelkreise in 24 Stunden einmal um die Erde von Ost nach West herumlaufen würde, kann als in starrer Verbindung mit der Sonne angesehen werden. Da wir nun nicht anstehen werden, der Bewegung des Autos in diesem besonderen Falle dasselbe Maß von Wirklichkeit zuzugestehen, wie einer ganz beliebigen Autofahrt auf irgend einer ganz beliebig gerichteten Straße, sind wir logisch gezwungen, auch die Bewegung der Sonne um die Erde in 24 Stunden als durchaus wirklich zu beurteilen[3]). Die tägliche Drehung des Fixsternhimmels um die Erde ist also nicht „Schein“, sondern genau so wirklich wie die tägliche Drehung der Erde um ihre Achse, und keine von beiden ist absolute Wahrheit — durch die ja die andere ausgeschlossen wäre —, sondern jede ist relative Wahrheit, geltend für ein zugehöriges Bezugssystem.

5. Die bisherigen Darlegungen gewinnen eine starke Stütze in ganz allgemeinen Auffassungen. Wenn man nicht in metaphysische Willkürlichkeiten und Irrtümer verfallen will, muß man ganz allgemein den Gegensatz von Wirklichkeit und Sinnenschein aufheben: der Begriff der optischen Täuschung hat nur praktische Bedeutung; theoretisch, für die vorurteilslose, streng empirisch gerichtete Erkenntnis ist er wertlos und unhaltbar. Der schräg zur Oberfläche des Wassers eingetauchte Stab „ist“ geknickt, nicht: „scheint“ geknickt — in voller Wirklichkeit, aber natürlich nur für das Auge, nicht für die tastende Hand; ganz ähnlich wie der in die Bewegungsrichtung fallende Schenkel des Michelsonschen Apparates nur für den zurückbleibenden, nicht auch für den mitbewegten Beobachter verkürzt „ist“, nicht „scheint“. Alle unsere Aussagen, soweit sie haltbar sind, gelten jeweils nur für ein bestimmtes Bezugssystem; alle sind relativ, bedingt, konditional, keine absolut. Wo gibt es in der echten Wissenschaft auch nur eine einzige absolute Erkenntnis?

6. Dieser Verzicht auf absolute Wirklichkeit bedeutet zugleich Einsicht in die Unerläßlichkeit eines Standpunktes, eines Koordinatensystems. Können die Vorgänge aber immer nur von einem Standpunkte aus angeschaut und dargestellt werden, so heißt das: sie können nur „beschrieben“ werden; alle „Erklärung“ ist zuletzt nur „Beschreibung“ (Mach, Kirchhoff). Schon Mach hat den physikalischen Begriffen (Masse, Energie, Temperatur, Elektrizitätsmenge usw., aber auch schon Raum und Zeit) die Absolutheit genommen und sie zu Hilfsmitteln der Beschreibung gemacht[4]). Ein Teil dieser Auffassung hat ja in der Physik eine herrschende Stellung gewonnen und — mit wenig glücklicher Bezeichnung — zur „phänomenologischen“ Physik geführt. Die Einsteinsche Theorie ist ein Schritt weiter auf dem von Mach gekennzeichneten Wege. Sie macht die physikalischen Begriffe — und zwar in erster Linie die der Gestalt der Körper und der zeitlichen Einordnung der Ereignisse oder des Uhrganges — in stärkerem Maße vom Standpunkt des Beobachters abhängig zu Hilfsmitteln der Beschreibung, zu Mitteln der Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, als sie es in den bisherigen mathematischen Theorien der Physik gewesen sind. Die Relativitätstheorie verleiht ihnen gleichsam eine größere Plastizität.

Die Aufgabe der Physik wird damit die eindeutige allgemeine Darstellung der Vorgänge von verschiedenen relativ mit konstanter Geschwindigkeit gegeneinander bewegten Standpunkten aus und eindeutige In-Beziehung-Setzung dieser Darstellungen. Jede solche Darstellung irgendwelcher Gesamtheit von Vorgängen muß eindeutig abbildbar auf jede andere dieser Darstellungen derselben[5]) Vorgänge sein. Die Relativitätstheorie ist eine solche Abbildungstheorie[6]). Das Wesentliche ist jener eindeutige Zusammenhang. Ihm zuliebe müssen sich die physikalischen Begriffe Biegung gefallen lassen. Erst das eindeutig durch Begriffe Dargestellte beherrschen wir theoretisch und technisch. Sind die physikalischen Begriffe oder Merkmale nur Hilfsmittel dieser Darstellung, Beschreibung, so kann es uns ganz gleichgültig sein, ob sie konstant oder ob sie gesetzmäßig variabel sind. Zeigt die Erfahrung eine Verkürzung sich von uns entfernender Körper, so müssen wir uns eben mit dieser Tatsache abfinden und die Gestalt der Körper als etwas mit der relativen Bewegung Variierendes, durch sie eindeutig Bestimmtes erkennen; wie Minkowski: „rein als Geschenk von oben, als Begleitumstand des Umstandes Bewegung“, natürlich nicht, wie bei Lorentz und Fitzgerald, absoluter, sondern relativer Bewegung. Das ist zuletzt nicht wunderbarer als irgend welcher andere eindeutige Zusammenhang. Wunderbar und erstaunlich ist es nur für unser Vorurteil, das infolge der Entwickelung am Absoluten hängt[7]).

7. Vor der Relativitätstheorie waren Raum und Zeit wie einzige, nur einmal vorhandene große Behälter, von denen alles umfaßt wurde und darin alle Vorgänge abliefen. Jedem Punkte eines Körpers glaubte man eine einzige ganz bestimmte Stelle in jenem absoluten Raume als seinen wahren, absoluten Ort zuschreiben zu können, und ebenso jeder Phase eines Vorganges eine einzige bestimmte Stelle in dem absoluten Verlaufe der Zeit als ihren absoluten, wahren Augenblick. Die Gestalten der Körper sollten nur durch Kräfte, nicht durch bloße Ortsänderung deformierbar sein. Alle relativen Beziehungen der Körper und Ereignisse sollten in jenen absoluten Raum- und Zeitlagen ihren letzten Halt, ihre letzte unverrückbare Grundlage finden. Das Relative sollte nur Inhalt des Absoluten, ohne das Absolute überhaupt nicht denkbar sein. So dachte sich Newton die Dinge und mit ihm die Mehrzahl der Physiker bis auf den heutigen Tag.

Doch hat Mach schon vor mehr als 40 Jahren in diese Auffassung mit seiner tiefbohrenden Kritik der Newtonschen Aufstellungen Bresche gelegt[8]). Und wer diesen allerdings gewaltigen Schritt mitgemacht hatte, dem wurde durch die Relativitätstheorie keineswegs so viel zugemutet, wie Planck meinte und so lebhaft schilderte. Ja, diese umstürzende Lehre wäre von Einstein gewiß nicht aufgestellt worden, wenn er nicht in der von Mach geschaffenen Atmosphäre aufgewachsen wäre. Man sieht auch, wie unnötig die Besorgnis[9]) ist, daß Machs Lehren auf die Phantasie der führenden Geister lähmend wirken könnten. Das Gegenteil ist richtig: sie haben die Forschung beflügelt, weil sie die Geister frei gemacht haben, frei vom Absoluten, von der Metaphysik.

Schon der gewiß von großer Vorurteilslosigkeit zeugende Gedanke der Lorentz und Fitzgerald, daß die absolute Bewegung der Körper eine Verkürzung in der Bewegungsrichtung bedingt, muß als eine Wirkung der von Mach und Kirchhoff gegebenen Anregungen angesehen werden. Wurden vorher nur die physikalischen Parameter im engeren Sinne — Kraft, Masse, Temperatur, Energie, Entropie, Potential usw. — als die eigentlichen Argumente der Funktionen betrachtet, mit denen man die physikalischen Vorgänge beschrieb, während die Raum- und Zeitgrößen nur als Mitläufer, nicht als eigentlich „wirkende“ angesehen wurden, so traten durch jenen kühnen Gedanken der Gestaltsänderung ganz allein als einer Funktion der absoluten Bewegung Raum und Zeit in eine Reihe mit den übrigen Parametern.

Noch weit unbefangener und bedeutender und doch noch ganz im Sinne jener frühen Gedanken Machs — hier nicht mehr Kirchhoffs — ist aber der Entschluß Einsteins, Gestalt und Uhrgang als Funktionen relativer Bewegung zu fassen.

8. Ehe wir unsere Aufmerksamkeit noch auf eine wichtige, bisher nur gestreifte Seite der Relativitätstheorie richten, wollen wir die Frage beantworten, die sich wohl jedem, der sich mit dieser Lehre zu beschäftigen anfängt, alsbald aufdrängt: was soll in einer Relativitätstheorie etwas Absolutes, der absolute Wert der Lichtgeschwindigkeit? Ist der Satz von der absoluten Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht geradezu ein Widerspruch gegen das Prinzip der Relativität?

Durchaus nicht, sonst müßte jedes Naturgesetz einen solchen Widerspruch bedeuten, da es ja auch eine feste Beziehung darstellt. Nur dann kommt der Widerspruch zustande, wenn man noch immer die alten Vorstellungen vom absoluten Raum und der absoluten Zeit anwendet und so an eine absolute Geschwindigkeit im alten Sinne denkt — absolut gleiche Strecken in absolut gleichen Zeitintervallen. Einstein und die übrigen Relativitätstheoretiker haben aber die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nur in jenem Sinne gemeint, in dem nur das Verhältnis der vom Licht durchlaufenen Strecke zu der dazu nach den Uhren desselben Systems benötigten Zeit konstant ist, also nur ein Naturgesetz ausgesprochen ist, ohne etwaige Voraussetzung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit.

Sehr beachtenswert scheint mir der Weg, auf dem Hr. v. Ignatowsky die konstante Lichtgeschwindigkeit mit dem Relativitätsprinzip verknüpft[10] ). Er zeigt, daß die Form der Lorentzschen Transformationsgleichungen aus der allgemeinen mathematischen Formulierung des Relativitätsprinzips folgt und daß dem heutigen Stande der Physik entsprechend ganz naturgemäß ein in dieser Form enthaltener Faktor dieselbe Funktion der Lichtgeschwindigkeit ist, die eben in der Einsteinschen Relativitätstheorie auftritt.

Ob es gelingen wird, angesichts der zu erhoffenden Versuche über Interferenz von Licht aus irdischen und aus kosmischen Quellen die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aufrecht zu erhalten, das ist eine Frage, an der die Erkenntnistheorie nicht in erster Linie mit interessiert ist. Ihr liegt vielmehr weit vor allem anderen an der entschiedenen und konsequenten Durchführung des Relativitätsprinzips. Und selbst wenn dieses wegen zu großer Schwierigkeiten, heute schon alle bekannten Tatsachen damit zu vereinigen, von den Physikern wieder verlassen werden sollte, so würde es doch erkenntnistheoretisch von der größten Wichtigkeit sein, daß eine solche Theorie auftreten und eine solche Herrschaft über führende Geister gewinnen konnte. Denn darin liegt ein starkes Unterpfand dafür, daß über kurz oder lang mit dem metaphysischen Vorurteil vom absoluten Raume und der absoluten Zeit doch endgültig wird aufgeräumt werden. Und das wäre nicht nur für die naturwissenschaftliche Erkenntnis von sehr großer Bedeutung.

9. Nun wollen wir, wie angekündigt, noch einen bedeutungsvollen Punkt ins Auge fassen.

Das Relativitätsprinzip hebt nicht nur die Wichtigkeit des Standpunktes überhaupt ins Bewußtsein, von dem aus man die Vorgänge darstellt, sondern sagt auch: es gibt für die theoretische Einsicht keinen ausgezeichneten Standpunkt — kein ausgezeichnetes Raum-Zeit-System —, von dem aus die Natur betrachtet werden kann; jeder Standpunkt ist jedem anderen prinzipiell gleichberechtigt.

Jedem Körper kommen also gleichzeitig — d. h. für jeden beliebigen Zeitpunkt irgend eines der in gegenseitiger gleichförmiger Translation begriffenen Bezugssysteme — mit gleichem Recht unbegrenzt viele Gestalten zu und jedem momentanen Ereignis unbegrenzt viele Uhrangaben der Zeit, zu der es eintrat, d. h. auch unendlich viele Einreihungen in den folgezeitigen Zusammenhang aller Ereignisse.

Wir können uns diese Verhältnisse zum Teil geradezu sinnenfällig nahe bringen, wenn wir die optischen Gestaltsänderungen rein deskriptiv verfolgen, die ein Körper bei Verschiebung im Raume relativ zu uns, zum Beobachter, erleidet. Wir müssen uns dabei nur von dem Gedanken losmachen, als seien jene Wahrnehmungen nur die verschiedenen „Erscheinungen“ eines und desselben „in Wirklichkeit“ unverändert bleibenden Gegenstandes. Für eine streng sachliche vorurteilslose Beschreibung ist nicht der mathematisch definierte Würfel das Wirkliche in unserem Gesichtsfelde, sondern ganz allein seine sogenannten „perspektivischen Verschiebungen“. Der niemals wahrgenommene und nicht einmal vorstellbare mathematische Würfel ist nur ein Begriff, das wichtige Hilfsmittel des „Denkens“, sich mit der Fülle der Erlebnisse jener „Verschiebungen“ abzufinden, sie „sich verständlich zu machen“, sie zu „begreifen“.

„Dem“ Würfel müssen wir also von den verschiedenen Standpunkten aus für einen und denselben Zeitpunkt verschiedene Gestalt zuschreiben, und alle diese Gestalten sind gleichberechtigte, durchaus miteinander verträgliche, sich nicht widersprechende (relative) Wirklichkeiten. Die Verkürzung und Verlängerung, die der Würfel bei relativer Entfernung und Annäherung im Radius der Bewegungsrichtung erfährt, ist analog der Veränderung des sich entfernenden oder nähernden Körpers in der Relativitätstheorie usw. Von quantitativen Verhältnissen abgesehen, besteht nur der Unterschied, daß bei jenen sogenannten perspektivischen Verschiebungen alle Dimensionen betroffen sind und daß die Gestaltsänderung bei Übergang zu relativer Ruhe nicht rückgängig gemacht wird, wie die Gestaltsänderungen in der Relativitätstheorie. Vor allem ist instruktiv, daß jede Gestaltsänderung in dem Falle jenes Würfels nur durch eine relative Ortsänderung bedingt ist.

Die Analogie geht noch weiter. Der mathematische Würfel und seine Starrheit bei der Bewegung im euklidischen Raum ist geradezu eine Theorie für die unendlich zahlreichen Einzelerfahrungen der „perspektivischen Verschiebungen“. So ist auch die in Raum und Zeit vierdimensionale Welt Minkowskis oder F. Kleins Invariantentheorie des vierdimensionalen Raum-Zeit-Gebietes gegenüber den Kollineationen der Lorentzgruppe die Theorie, der Begriff, mit dem die unendlich zahlreichen gleichberechtigten Darstellungen jedes Vorganges im dreidimensionalen Raum einheitlich zusammengefaßt werden. Nur wenn Minkowski sagt, daß „durch die Erscheinungen nur die in Raum und Zeit vierdimensionale Welt gegeben“ sei und damit durchblicken läßt, daß jene wirklich beobachteten Vorgänge eben, wie er sich auch ausdrückt, nur „Erscheinungen“ seien, so ziehen wir, unserer erkenntnistheoretischen Stellung entsprechend, es vor, auf den lediglich theoretischen, begrifflichen Charakter des Minkowskischen „Postulats der absoluten Welt“ hinzuweisen. Als wirklich und zwar in gleicher Weise, mit durchaus gleicher Berechtigung — unter den oben unter 3. angegebenen Voraussetzungen — als wirklich zu bezeichnen sind allein alle „Projektionen“ jener vierdimensionalen Welt in Raum und in Zeit der Einsteinschen Physik, wie oben die wirklich beobachteten „perspektivischen Verschiebungen“ des nur gedachten mathematischen Würfels. Dabei kann es natürlich keinem Zweifel unterliegen, daß uns die Minkowskische und F. Kleinsche Theorie viel wichtiger sein muß als der oder jener einzelne unter sie gehörige wirkliche Fall, gerade wie der mathematische Würfel wichtiger als die eine oder andere seiner sogenannten perspektivischen Verschiebungen.

10. Ein Begriff oder eine Theorie ist niemals Ausdruck für einen absoluten Standpunkt bei der Betrachtung, für absolute Wahrheit, sondern nur Hilfsmittel, uns mit den Dingen und Vorgängen ins Gleichgewicht, in ein stabiles Verhältnis zu setzen. Und die Begriffe und Begriffssysteme sind die besten, die das in der einfachsten und vollständigsten Weise leisten. Zu diesen Begriffen gehören auch Raum und Zeit, Raummaß und Zeitmaß. Und das zur Geltung gebracht zu haben, darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie.

Indem sie so aus den absoluten, nur einmal vorhandenen Behältern Raum und Zeit Begriffe macht, die der Beschreibung des Wahrgenommenen dienen, stellt sie den Menschen mitten in die Welt, macht ihn zu einem Teile der Welt. Er steht nicht mehr auf einem archimedischen Punkte außerhalb ihrer, von dem aus er hoffen könnte, sie begrifflich aus den Angeln zu heben, zu einer hinter ihr gelegenen absoluten Wahrheit zu gelangen, sondern er ist „Ort für Ort“ in ihrem Inneren.

Damit steht die Relativitätstheorie in einem großen erkenntnistheoretischen Zusammenhange und ist eins der historisch wichtigsten Glieder dieses Zusammenhanges, mag sie nun bestehen bleiben oder über kurz oder lang fallen.


  1. P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Leipzig, Teubner, 1910.
  2. Diese Behauptungen sollen an anderer Stelle begründet werden.
  3. In der Diskussion wandte Herr Gehrcke ein, daß die absolute Bewegung des Autos an den Zentrifugalkräften erkannt werden würde, die sich an ihm zeigen müßten. Was kann uns denn aber zwingen, das Auftreten von Zentrifugalvorgängen einer niemals aufweisbaren absoluten Bewegung zuzuschreiben, während die Erfahrung es immer nur an relative gebunden zeigt? Wir müssen unsere Theorien den Tatsachen anpassen, nicht aber die Tatsachen unter metaphysische Vorstellungen beugen wollen.
    Übrigens muß es von Herrn Gehrckes Standpunkt aus recht zweifelhaft sein, ob in dem angenommenen Falle das Auto noch Zentrifugalvorgänge zeigen würde. Denn für ihn wäre ja nicht sowohl das mit der Sonne starr verbundene Auto als die sich darunter umwälzende Erde bewegt. Träten aber wirklich Zentrifugalvorgänge auf — die doch am Fixsternhimmel und der Sonne bei ihrer Relativdrehung um die Erde bisher nicht zu beobachten waren —, so wäre das ein Beweis für die Vermutung Machs, die von den Gebrüdern Friedländer und von Föppl experimentell zu bestätigen versucht worden ist — einstweilen allerdings ohne Erfolg: für die Vermutung, daß alle Relativdrehungen Zentrifugalvorgänge bedingen. Man könnte die Frage vielleicht durch Pendelversuche auf ost—westwärts und umgekehrt fahrenden Schiffen und Eisenbahnzügen fördern. Die beiden Fahrtrichtungen könnten bei gleichen Fahrtgeschwindigkeiten für gleiche Zeiten verschiedene Schwingungszahlen ergeben.
    Im übrigen erinnere ich an die Erörterungen, die im vorigen und gegenwärtigen Jahrgange der vorliegenden „Verhandlungen“ zwischen den Herren Gehrcke und Grünbaum stattgefunden haben. Man vergleiche auch die Arbeit von Gehrcke „Über den Sinn der absoluten Bewegung von Körpern“ in den Sitzber. d. Bayr. Akad. d. Wiss., math.-phys. Kl., 1912, S. 209 ff. Ich darf wohl auch auf meine Arbeit verweisen: „Die Gebiete der absoluten und der relativen Bewegung“ in Ostwalds Annalen d. Naturphilos. VII, 1908, S. 29 ff. Daß es sich bei der Beschreibung der Naturvorgänge zuletzt nur um relative handeln kann, vermag man heute nicht mehr in begründeten Zweifel zu ziehen. Fraglich scheint mir nur, ob die physikalische Theorie schon so weit entwickelt ist, daß sie bald auch im Falle der Zentrifugalkräfte auf einen durch Konvention festzulegenden Begriff absoluter Bewegung verzichten kann. Man darf auch nicht vergessen, daß sich alle unsere Beschreibungen noch auf den metrischen Raum beziehen, der niemals in der Erfahrung gegeben und noch immer eine Art absoluter Raum per conventionem ist. Vgl. Petzoldt, a. a. O.
  4. E. Mach, Erhaltung der Arbeit. Vortrag in der Böhm. Ges. d. Wiss. Nov. 1871. 2. Aufl. S. 32, 34 ff., 56f. Leipzig 1909.
  5. Besser: eindeutig aufeinander abbildbare Darstellungen von Vorgängen beliebig vieler jener Bezugssysteme sind Darstellungen „desselben“ Vorganges. Die Identität muß definiert werden, da sie nicht von vornherein gegeben ist.
  6. v. Ignatowsky, Das Relativitätsprinzip. Arch. d. Math. u. Phys. 17, S. 16, 1911. Allerdings steht der Verfasser auf dem Standpunkte, daß es sich nicht um „wirkliche“ Änderungen der Gestalt handele. Er hat also noch eine hinter allen jenen „Bildern“ gelegene eigentliche absolute Gestalt des Körpers im Sinne. Das aber ist, wie wir gesehen, erkenntnistheoretisch unhaltbar.
  7. Petzoldt, Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischen Positivismus aus. 2. Aufl. Leipzig 1912. Bd. XIV der Teubnerschen Sammlung „Wissenschaft und Hypothese“.
  8. Man lese heute, nach dem Auftreten der Relativitätstheorie, nur einmal die oben, S. 9, Anmerk., angegebenen Stellen aus Machs „Erhaltung der Arbeit“.
  9. Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, S. 37. Leipzig 1909.
  10. v. Ignatowsky, „Einige allgemeine Bemerkungen zum Relativitätsprinzip“, Verh. d. D. Phys. Ges. 12, 788ff., 1910, und „Das Relativitätsprinzip“ im Arch. d. Math. u. Phys. 1911, S. 1 ff.