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„Ein Mensch pflanzte einen Weinberg, und verpachtete ihn an Winzer; und er war lange Zeit in der Fremde. Und da es Zeit war, sandte er einen Knecht zu den Winzern, daß sie ihm von der Frucht des Weinberges gäben. Diese aber schlugen ihn und ließen ihn leer abziehen. Und er sandte wieder einen anderen Knecht, sie aber schlugen auch diesen, schmähten ihn, und ließen ihn leer abziehen. Und er sandte wieder einen dritten, sie aber verwundeten auch diesen und warfen ihn hinaus. Da sprach der Herr des Weinberges: Was soll ich thun? Ich will meinen geliebten Sohn senden, vielleicht haben sie Ehrfurcht vor ihm, wenn sie ihn sehen. Als ihn aber die Winzer sahen, dachten sie bei sich selbst und sprachen: Dieser ist der Erbe, laßt uns ihn töten, damit das Erbe unser werde. Und sie warfen ihn zum Weinberge hinaus und töteten ihn.“ (Matth. 21.)

Es war nicht nötig, daß der göttliche Heiland dieses Gleichnis erklärte, denn die Hohenpriester und Schriftgelehrten wußten, wie die heiligen Evangelisten beifügten, daß er es auf sie geredet habe. Sie waren die Winzer, daß Volk Israel mit seinem Gesetze und seinem Gottesdienste war der Weinberg, die Frucht ist die Gerechtigkeit, das Erbe sind die Verheißungen, besonders von dem Reiche des Messias, von der Herrschaft über die ganze Erde, die dem Messias und dadurch dem ganzen Volke Israel zu teil werden soll. Der Erbe ist Jesus Christus, der sich wiederholt als Sohn Gottes und Messias bezeichnet hat. Nicht lange vor seinem Tode, am Feste der Tempelweihe, hatten ihn die Juden in der Säulenhalle Salomos umringt und gefragt: „Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du Christus bist, so sage es uns frei heraus!“ Jesus antwortete ihnen: „Ich sage es euch, aber ihr glaubet mir nicht. Die Werke, welche ich im Namen meines Vaters wirke, diese geben Zeugnis von mir, aber ihr glaubet nicht.“ (Joan. 10.) Und warum mochten sie ihm nicht glauben, trotz zahlloser Wunder, die seine Aussage bestätigten? Weil er ihnen ihr vermeintliches Erbe nehmen, ihre Träumereien von einem irdischen Weltreiche der Juden zerstören wollte; weil er ihnen drohte, daß das Reich von ihnen weggenommen und einem anderen Volke gegeben würde (Matth. 21); weil auch die Heiden an dem messianischen Reiche, seinen Gütern und Ehren teilnehmen sollten. (Joan. 10.) Darum wollten sie ihn als Messias nicht anerkennen, darum mußte seinem Wirken durch gewaltsamen Tod ein Ende gemacht werden. Sie wollten nicht ihr vermeintliches Erbe durch Annahme der Lehre, die Jesus Christus predigte, aufgeben, sie wollten die Hoffnung auf eine jüdische Weltregierung, auf den Besitz der Erde festhalten und darum auf einen anderen Messias warten, der sie in dieses Erbe einführte. Dieses Erbe ist demnach die Binde, welche die Hohenpriester und Schriftgelehrten sich selbst und dem von ihnen irregeleiteten Volke auf das Auge des Geistes legten, so daß sie in Jesu Christo den Messias nicht schauten; es ist jene Binde, von welcher der heilige Apostel Paulus an die Christengemeinde in Korinth, von den Juden sprechend, geschrieben hat: „Bis auf den heutigen Tag liegt, wenn Moses gelesen wird, eine Binde auf ihren Herzen.“ (II. Corinth. 3, 15.) Der Apostel, vor seinem Eintritte in die Kirche ein eingefleischter Pharisäer, hatte diese Binde auch getragen, und sie war erst dann von seinem Herzen gefallen, als

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Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)