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wurde aus der Reihe der selbständigen Völker gestrichen, und seine Kinder wurden in alle Welt zerstreut. Die Kinder Israels, wie man auch die Juden nennt, waren Schlingpflanzen gleich geworden, die sich um die einzelnen Völker wanden, wie Schlingpflanzen um die Bäume, und von deren Safte zehrend, sich an ihnen aufrankten.

Gleichwohl haben die Juden auch jetzt noch eine wichtige Aufgabe im Reiche Gottes zu erfüllen. Sie müssen mit ihren heiligen Büchern, die sie als kostbaren Schatz mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit hüten, als Zeugen für die Thatsache dienen, daß Gott sein Versprechen erfüllt hat, das er schon im Paradiese gegeben hatte, und daß der damals verheißene Erlöser vor achtzehnhundert Jahren wirklich gekommen ist.

Man hat es uns zum Vorwurfe gemacht, daß wir dem Judenvolke den ersten Platz unter den Kulturvölkern des Altertums zuerkannt haben. Man hat gesagt: „daß zeitlich dem Judenvolke nicht die erste Stelle gebührt, wissen schon unsere Kinder. Die Juden waren noch ein Nomadenvolk, als in Ägypten schon hohe Kultur blühte.“ Ganz richtig, wenn man die Sache von einem anderen Standpunkte als dem kirchlichen in Betrachtung zieht. Aber vom kirchlichen Standpunkte betrachtet erscheint uns das jüdische Volk, welches die Verehrung des Einen wahren Gottes und die Hoffnung auf den verheißenen Erlöser bewahrte, allen heidnischen Völkern gegenüber als Kulturvolk, wenn es auch anderweitig von denselben in allerlei Künsten und Wissenschaften übertroffen wurde. Auf diesem Standpunkte stehend waren auch die heiligen Kirchenväter gewiß in ihrem Rechte, wenn sie die Stammväter des jüdischen Volkes über die griechischen Weltweisen stellten.


II.
Verhalten Christi und der Apostel gegen die Juden.

Wenn wir nun nach der Stellung fragen, welche der katholische Klerus – zunächst der Apostolische Stuhl – im großen und ganzen zu den Juden seit achtzehn Jahrhunderten eingenommen hat, so dürfen wir wohl sagen, daß er im allgemeinen das Beispiel nachgeahmt hat, welches der Sohn Gottes und die Apostel in diesem Punkte ihm gegeben haben.

Christus der Herr liebte das Volk der Juden, wie die zahllosen Wohlthaten beweisen, die er ihm erwiesen hat. Aber freimütig hielt er ihm auch seine Fehler vor, und züchtigte mit eigener Hand die Tempelschänder, die um schmutzigen Gewinnes willen das Heiligtum entweihten. Selbst der schmählichste Undank konnte die Liebe zum Judenvolke aus dem Herzen des Gottessohnes nicht verscheuchen, er weinte Thränen des herzlichsten Mitleids über Jerusalem und das Schicksal des jüdischen Volkes, er betete noch sterbend für diejenigen, die ihn dem Tode überliefert hatten und am Kreuze noch verspotteten.

Von welchen Gesinnungen die Apostel gegen die Juden beseelt waren, können wir von dem heiligen Apostel Paulus hören, welcher wiederholt Gelegenheit hatte, nach dieser Seite hin sich auszusprechen. Der Apostel hat eine solche Liebe zu Jesu Christo, daß nichts ist in

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Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)