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Geschrei an Bord: „Vadder, Vadder, wo büst du denn?“ – „Harrjees, Vadder slöppt! (schläft)“ ruft eines der Kinder. Das Haupt der Familie, das leider den lobenswerten Bestrebungen der Gesellschaft vom blauen Kreuz sich anzuschließen niemals geneigt war, ist sanft und selig entschlummert. „Man nich so iilig (eilig),“ brummt er, als der Brückenwärter ihn weckt; „is de ‚Primus‘ nu endlich dar?“ – Ja, da ist er, dort, einige Klafter südwärts auf freier Elbe, und wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen, man lacht den Pechvogel noch gehörig aus. „Mit’n nächsten Dampfer komm’ ich nach!“ ruft er mit Stentorstimme den sich entfernenden Lieben noch zu und richtet dann seine Schritte zum Fährpavillon, dessen „nordische Maibowle“, nämlich ein sehr süßer, sehr heißer und sehr „steifer“ Grog, ihm soeben den bösen Streich gespielt hat. „Noch eenen, Herr Möller?“ fragt dienstbereit der Kellner. „Nee, Fritz, lieber en Selters!“ erwidert trübselig der Sitzengebliebene, der kommenden Gardinenpredigt gedenkend. Aber das lebhafte Getriebe auf der von Menschen wimmelnden Straße vor ihm heitert ihn rasch wieder auf, und bald murmelt er vergnügt: „Is doch zu nett, so’n Sonntag in unserm lieben Hamburger Hnfen!“




Ludwig XVII.
(Mit dem Bilde S. 893.)

Der Dauphin Ludwig XVII.
Nach der Büste von L. P. Deseine.

Auf dem Bilde L. Ch. Spriets sehen wir den Dauphin Ludwig XVII, den Sohn der unglücklichen Marie Antoinette und des schwachen, gutmütigen Ludwig XVI, welche beide als Opfer des Volkshasses hingerichtet wurden. Wir erblicken den unglücklichen Prinzen fiebernd auf elendem Lager, während der Freund Robespierres, der Schuster Simon, dem er zur Bewachung anvertraut worden ist, ihn zur Arbeit ruft und mit Schlägen bedroht.

Der wütende Jakobiner war trotz seiner 57 Jahre noch rüstig, von großer, vierschrötiger Figur, mit bronzenem Teint, rohen Zügen und einer rohen Stimme, buschigen Brauen und wirr herunterhängenden schwarzen Haaren. So schildern ihn die Zeitgenossen – und nur mit Bezug auf die Haarfarbe ist der Künstler von der Ueberlieferung abgewichen; er gab dem eingefleischten Fanatiker Silberhaar, wohl um den Kontrast zwischen der Milde, die man dem Alter zuschreibt, und so wilder Gesinnung um so mehr hervorzuheben.

Der Dauphin, den wir in diesem Bilde vor uns sehen, ist nicht nur der junge Held einer langen Leidensgeschichte, welche mit zweifelloser Klarheit von vielen Zeugen derselben dargestellt wurde; er ist auch der Held rätselhafter Vorgänge, über welche noch heutzutage die Meinungen weit auseinander gehen. Louis Charles war der zweite Sohn Ludwigs XVI und am 27. März 1784 in Versailles geboren; ein älterer Bruder erlag schon 1789 einem skrofulösen Leiden. Er selbst war gesund und frisch, von geradem Wuchs, kein Schmerzenskind wie der Bruder, hatte ein graziöses Wesen, eine blühende Gesichtsfarbe, große blaue Augen, eine von Intelligenz strahlende, etwas gewölbte Stirn, eine nur wenig gekrümmte Adlernase, einen feingezeichneten, lächelnden Mund, Grübchen im Kinn, einen langen biegsamen Hals, und das reizende Gesichtchen umrahmten Haare von aschfarbenem Blond, welche in dichten Ringeln auf die Schultern herabfielen. Dies sympathische Gesichtchen zeigt uns außer der Büste von L. P. Deseine noch ein erhaltenes reizendes Pastellbild der Madame Vigée-Lebrun. Der junge Prinz hatte Esprit. Eines Tags, als er seine Lektion studierte, begann er zu pfeifen; die Königin kam dazu und tadelte ihn. „Ich konnte meine Lektion so schlecht,“ sagte er, „daß ich mich selbst ausgepfiffen habe.“ Später einmal, in den Tuilerien, als die Banden Sauterres sie überfluteten, stand er mitten im großen Saale neben seiner Mutter, welche die Deputierten der Gironde zu schützen suchten. Hatte sich die Menge etwas verlaufen, so examinierten sie den Knaben besonders in der Geschichte. Einer von ihnen war so taktlos, von der Bartholomäusnacht zu sprechen: ein anderer rügte dies und meinte: „Es giebt hier ja keinen Karl IX“; „aber auch keine Katharina von Medici,“ setzte der Prinz hinzu, ein glückliches Impromptu, welches bald die Runde durch den Saal machte. Bei den Schicksalsschlägen, welche Vater und Mutter trafen, war der Knabe meist als Augenzeuge zugegen; ja bisweilen spielte er selbst dabei eine kleine, wenn auch nur passive Rolle. In den stürmischen Tagen von Versailles, als die wilden Megären ins Schloß einbrachen, erschien die Königin, ihn und die Tochter an der Hand haltend, im innern Marmorhofe des Palais. Während der traurigen Fahrt von Versailles nach Paris schlief das Kind meistens im Arm seiner Gouvernante. Auf der Terrasse der Tuilerien war ihm ein kleiner Garten eingerichtet, wie früher auf der Terrasse von Versailles. War sein königlicher Vater in den Mußestunden Schlosser gewesen, so sollte der Prinz Gärtner werden, und er hantierte tapfer mit Hacke, Schaufel, Rechen und Gießkanne umher und zog schöne Blumen für seine Mutter. Auf die Terrasse der Tuilerien wurde er stets von Nationalgarden begleitet, die sich freundlich mit ihm unterhielten, ein kleines Regiment du Dauphin wurde von jungen Parisern geschaffen und für ihn uniformiert. Bei dem Föderiertenfest auf dem Marsfelde, wo der König der Verfassung den Schwur der Treue leistete, hob Marie Antoinette unter stürmischen Zurufen den Dauphin in die Höhe und zeigte ihn dem Volke mit den Worten: „Seht meinen Sohn, er teilt meine Gesinnungen!“ Bei der Flucht des Königs nach Varennes und der Gefangennahme desselben war der junge Prinz wohl zugegen; doch verschlief er diese weltgeschichtlichen Ereignisse. Beim Sturm auf die Tuilerien flüchtete der König, die Königin und der Dauphin in die Reitbahn, wo die Nationalversammlung tagte; ein Grenadier hatte den jungen Prinzen, um ihn vor der aufgeregten Menge zu schützen, in die Arme genommen und über die Häupter derselben fortgetragen. Jetzt begann bereits die Greuelherrschaft der Kommune; mächtiger als die Versammlung der Volksvertreter, hatte sie es durchgesetzt, oaß der König und seine Familie im Temple gefangen gehalten werden sollten.

Dieser imposante, düstere, verwitterte Temple gab die Schlußscenerie ab für die Tragödie des französischen Königtums, die sich hier keineswegs gleichmäßig abspielte, sondern nach einer anfänglichen erträglichen Idyllik allmählich ins Grausenhafte überging. Diesen Wechsel hatte besonders der Dauphin zu empfinden, der ja die dem Tod geweihten Eltern noch einige Zeit überlebte. Der Dauphin wohnte anfangs bei der Königin; er durfte an den einstündigen Spaziergängen im Garten des Temple teilnehmen, in dessen Kastanienalleen er sich durch allerlei Bewegungsspiele ergötzte. Die Tafel war luxuriös und königlich und sie blieb es bis zum Tode der Königin. Nach der Uebersiedelung aus dem kleinen Turm des Temple in den großen wohnte der Dauphin bei seinem Vater, der sich schon früher mit seiner Erziehung beschäftigt, ihm Stunden in der französischen Grammatik, in Latein, in Geographie und Geschichte gegeben hatte. Das alles änderte sich, nachdem der König in Anklagestand versetzt worden war. Noch kurz vorher hatte der Dauphin mit dem Vater Vialli gespielt, ein Spiel, bei dem die Kegel durch einen Kreisel umgeworfen wurden. Der Dauphin verlor beständig und konnte es zumal nicht über die Zahl 16 hinausbringen. „Jedesmal, wenn ich bis zur 16 gekommen bin, verliere ich die Partie,“ sagte er ärgerlich; der Könia schwieg, doch bemerkte es der treue Diener Clévy, der dem Dauphin stets zur Seite stand und in seinem Journal alles Denkwürdige aus jener Zeit aufgezeichnet hat.

Nach der Hinrichtung des Königs wurde der Prinz zunächst in die Obhut seiner Mutter gegeben. Doch dies währte nicht lange Zeit. Mehrere Verschwörungen zur Befreiung der Königin wurden entdeckt, und die republikanischen Machthaber beschlossen, der Sohn müsse von der Mutter getrennt, in einem abgesonderten Gemach untergebracht und einem durch die Kommune ernannten Aufseher anvertraut werden. Die Königin wehrte sich verzweifelt gegen die Ausführung dieses Beschlusses. „Ihr sollt mich töten,“ rief sie, „ehe ihr meinen Sohn mir entreißt!“ Vergeblich!

Nun begann für den Prinzen seine erste, aber noch nicht die schlimmste Märtyrerstation. Der Schuhflicker Simon traktierte den Dauphin oft genug mit Schlägen; er ließ sich von dem Prinzen bei Tisch bedienen: dieser mußte die Teller abwaschen und die Stube kehren. Er wurde in einen Kittel von grobem, rauhem Tuch gesteckt und man setzte ihm eine rote phrygische Mütze auf; er mußte die Marseillaise und Carmagnole lernen und im Prozeß gegen seine Mutter aussagen – und er that dies mit entschiedener Feindseligkeit, so leidenschaftlich er früher an ihr hing; zum Teil mochte er nicht verstehen, was er sprach. Von der Hinrichtung der Mutter erfuhr er jedoch nie ein Wort. So sehr ihn Simon indes mißhandelte und zu einem kleinen „roten Prinzen“ dressierte, sorgte er doch auch für seine Unterhaltung, spielte mit ihm Billard, schaffte einen Vogelkäfig mit Zeisigen herbei, mit denen der kleine Gefangene spielte, führte denselben oft in den Garten und auf den Turm. Doch als die luxuriöse Tafel der Königin aufhörte, an welcher Simon und Frau tapfer mitgespeist hatten, wurde dieser seines Dienstes überdrüssig. Aber es dauerte nicht lange, da mußte er selbst, zugleich mit seinem Herrn und Meister Robespierre, das Schafott besteigen.

Nun begann die traurigste Märtyrerstation für den Prinzen: er wurde wie ein gemeiner Verbrecher hinter Schloß und Riegel gehalten, erhielt Nahrung nur durch die kleine Oeffnung der schwerverschlossenen Thür; Ratten, Mäuse und Ungeziefer aller Art tummelten sich in dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 894. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0894.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2018)