Seite:Die Gartenlaube (1899) 0875.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Eine Stunde später verbreitet sich die Kunde: Markus Paltram ist gestorben, sanft und ruhevoll ist er dahingegangen.

Das Engadin hatte keinen Größern zu verlieren. Er war sein großer Jäger, sein Retter, sein Arzt. Und sein friedliches Scheiden beruhigte.

Er war besser als sein Ruf – und eine Blutschuld hat nach seinem Tod das Engadin nie auf Markus Paltram kommen lassen.

Cilgia Premont aber sah ihren Sohn zum Manne werden und erlebte an ihm Freude.

Nur eine schwere Stunde war ihr noch beschieden.

„Mutter,“ sagt der ernste, zu männlicher Schönheit erblühte Lorenz, „es war ein alter halbgelähmter Bettler da – er nennt sich der lange Hitz – er wünschte Geld, und er sprach von meinem Vater. Mutter, rede, was weißt du vom Vater?“

Und vor dem Sohne schließt die Mutter das große Geheimnis ihres Lebens auf.

„Warum thatest du so, Mutter?“ fragt er in heißen Schmerzen.

„Ich wollte, daß kein Leid auf das sonnige Haupt meines Sohnes komme – sein Name ohne Makel sei!“

Da küßt er in tiefer Bewegung die Stirne der Frau.

Und Cilgia hat noch wundersame Tage gesehen.

Sie erlebte es noch, wie der langsame Andreas Saratz von Pontresina mit andern wackern Männern Bündens den Piz Bernina erstieg und das kühne Haupt sich unter dem Tritt der Menschen beugte. Sie erlebte es noch, wie tausend und aber tausend sommerfrohe Menschen das einst so einsame Engadin durchstreiften, jubelten über die reinen Seen, über das kindliche Licht, und zu Berge stiegen und das Thal als eine unvergleichliche Schönheitsoffenbarung der reichen Erde priesen.

Nur das Wunder des heutigen Engadins hat sie nicht mehr gesehen.

Denn ein Wunder ist das jetzige Engadin.

Zwischen weißen Bergen nur ein grüner Strich, wo kurzes Gras und Alpenblumen wachsen, besitzt es drei blühende Städte – Samaden, St. Moritz, Pontresina – und was schön ist, was die Menschen erfreut, giebt es in seinen reichen Palästen! Sie haben sich mit Kunst geschmückt, in reichen Büchereien stehen die Dichter in Reih’ und Glied, und der Wanderer komme, aus welchem Lande er will, so grüßen ihn jung und alt in seiner Heimatsprache.

Aber das hochgebildete Volk hat noch eine Herzenssprache – das Ladin, die Dichtersprache Konradins von Flugi.

So lange die innigen Seen strahlen, werden seine Lieder klingen. So lange die Alpen grün werden, wird das Volk der Bergamasken am Herdfeuer die Sagen von Markus Paltram erzählen und in die Nacht horchen, ob er nicht gegangen kommt. Denn sie glauben, der Sohn des Camogaskers, der König der Bernina, durchwandere immer noch sein Reich.

Er ruht aber zu Santa Maria bei Pontresina.

Und die weiße Flamme der Bernina hütet das stille Grab und das des schönen Jägerknaben Landolo.




Der große Geburtstag.
Eine Silvesterbetrachtung von Ernst Muellenbach.

Vor dreizehn oder vierzehn Jahren war es, als wir mal wieder zur Silvesterfeier auf der „Kneipe“ beisammen saßen, die in solchen Stunden häuslicher Feierstimmung dem heimatfernen Studenten, manchmal auch dem ortsansässigen, noch unbeweibten „Alten Herrn“ das Familienzimmer ersetzen muß. Das neue Jahr hatte soeben unter einem donnernden „Salamander“ seinen Einzug gehalten, die ersten Glückwünsche waren auch erledigt, und über der zuvor so lauten „Corona“ lag das verlegene Schweigen, das auf den Ausbruch einer allgemeinen fröhlichen Rührung manchmal folgt. In diese fast commentwidrige Stille schlug plötzlich eine wunderliche Frage herein …

Wir hatten damals unter den älteren Aktiven unserer Korporation einen prächtigen blonden Hünen aus einem der allernördlichsten Gaue des Reiches, tüchtig, treu und trinkfest, aber ein wenig mit dem behaftet, was man in der Studentensprache eine lange Leitung nennt, das heißt, sein Denken ging einen etwas langsamen, bedächtigen Schritt. Er ließ zuweilen den besten Witz gelassen an sich vorüberlaufen, um ihn etwa nach einer halben Stunde einzuholen und mit einem verspäteten Gelächter zu begrüßen, wenn die anderen schon gar nicht mehr daran dachten. Seine eigenen Einfälle verarbeitete er ganz im stillen, mit einer gewissenhaften Gründlichkeit; das Ergebnis kam dann um so plötzlicher und durch Wortkargheit eindrucksvoller heraus. Aber selten hatte er einen so verblüffenden Eindruck erzielt, wie in jener Silvesternacht, als er mitten in das große Rührungsschweigen, mit einem ganz ernsthaften Rundblick aus seinen blauen Sachsenaugen, die Frage hineinwarf: „Warum feiert man eigentlich Silvester?“

Etliche lachten, andere starrten ihn ganz erschrocken an. Ehe aber von uns Aelteren einer sich auf eine Antwort besonnen, scholl vom unteren Ende der Tafel eine sehr helle und frische Stimme: „Weil dann die Menschheit ihren großen Geburtstag hat.“

Der das rief, war ein blutjunger Fuchs, aus der Gegend, wo man den besten Pfälzer Wein baut. Dieser Fuchs wurde darauf hin vom Fuchsmajor in die Kanne geschickt, „wegen Vorspiegelung von Intelligenz“, und das allgemeine Gelächter begrub ihn wie eine Meereswoge. Ich sehe ihn im Geiste noch, wie er unter diesem Sturzbad mit seinen quicken Pfälzeraugen hervorguckte, zugleich beschämt und befriedigt über den ungeahnten Heiterkeitserfolg. Wenn er mir aber jetzt leibhaft gegenüber säße, würde ich sehr gern mit dem gestrengen Herrn Oberlehrer ein Glas Punsch auf seine damalige Fuchsweisheit trinken und ihr bei einigen weiteren Gläsern auf den Grund zu kommen suchen.

Thatsächlich giebt es für beinahe jeden unter uns in einem Kalenderjahr zwei Tage, an denen sich für ihn ein neuer Jahresring an die Kette schließt. Den einen Tag teilt er mit einer Anzahl von Mitmenschen, von denen er aber doch im besten Falle nur einen oder einige näher kennt. Den andern teilt und feiert er mit der Gesamtheit aller, die nach demselben Kalender rechnen wie er – das heißt also in unserem Falle: mit dem weitaus größten Teile der civilisierten Menschheit. Am Geburtstag heißt es: „Jetzt bin ich wieder ein Jahr älter!“ In der Silvesternacht begrüßen wir einander: „Jetzt sind wir wieder ein Jahr älter!“ In diesem „wir“ liegt der moralische Berechtigungsbrief für die gemeinsame Feier der Neujahrsnacht, als notwendiges und löbliches Gegengewicht zu der egoistischen Geburtstagsfeier. Ein erwachsener und civilisierter Mensch, der nur sich zum Geburtstag Gutes wünscht und nicht auch der Menschheit zum neuen Jahr, wäre zu bedauern und auch einigermaßen zu beargwöhnen. Ich glaube aber, daß dieser Mensch verhältnismäßig selten vorkommt; denn die allgemeine Rührung wirkt wenigstens auf ein Weilchen erwärmend auch auf kalte Herzen, zumal wenn man ihr mit heißem Punsch und anderen guten Sachen nachhilft.

In einer merkwürdigen Ausnahmslage befinden sich nur diejenigen, deren Wiegenfest mit dem Anfang eines neuen, bezw. dem Ende eines alten Menschheitsjahres zusammenfällt. Denen bleibt nichts übrig, als sich und der Menschheit in einer Sitzung Glück zu wünschen. Sollten sie dabei des Guten zu viel thun, so wird man ihnen doch mildernde Umstände zuerkennen müssen. Ich habe einen von dieser Sekte gekannt, bei dem der Fall noch besonders verwickelt lag. Er war nämlich in einer Silvesternacht geboren, ob aber vor oder nach Mitternacht, darüber bestand in seiner Verwandtschaft ein nie beglichener Glaubenszwist. Schule und Staat stützten die eine der beiden Auslegungen, aber die häusliche Gegenpartei ließ sich selbst dadurch nicht herumkriegen, sie behauptete, der junge Mann gehöre erst in die nächste Jahresklasse, und enthielt ihm ihre Glückwünsche mit Vorliebe bis in die späteren Nachmittagsstunden des 1. Januar vor. Er wurde dadurch mit der Zeit selber ganz irre, und als er mir nach Jahr und Tag wieder begegnete – als Studiosus der Medizin –, war es schon so weit mit ihm, daß er seine Geburtstagsfeier mit


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0875.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2018)