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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Airolo und die Stalvedroschlucht.

(Zu dem nebenstehenden Bilde.

Der Zug rasselt und prasselt mit metallischem Getöse durch den Gotthardtunnel. Zwanzig Minuten dauert die Fahrt im Unterirdischen. Wir vergegenwärtigen uns, was an Wassern hoch über unsern Köpfen schäumt, an Bergen sich darüber türmt. Erstlich die unter der Teufelsbrücke hindurch polternde Reuß, dann der St. Annagletscher jenseit des grünen Plans von Andermatt, dann die fast 3000 m hohen Gipfel des Kastelhorns und Tritthorns, die sich ungefähr über der Mitte des Tunnels erheben, darauf der in stiller Gebirgsöde träumende Sellasee. Jetzt, nachdem wir schon zwei Drittel des Tunnels zurückgelegt haben, neigt sich der bisher sanft ansteigende Zug, mit leichtem Gefälle geht es dem Tunnelausgang zu, die Räder ersausen über dem Viertelkreis einer Kurve, die die Bahn aus dem von Norden nach Süden verlaufenden schnurgeraden Tunnel in das von Westen nach Osten gerichtete Livinenthal hinausführt. Zwischen hohen Böschungen blitzt der Tag herein – noch zwei Stöße der Lokomotive – wir sind in Airolo, der auf 1144 m Meereshöhe gelegenen Südstation des Gotthardtunnels. Zur Rechten schnellt der junge Tessin an uns vorbei, zur Linken liegt, an die alte Gotthardstraße hingereiht, in etwas erhöhter Lage das Dorf mit echt italienischer Silhouette unter den verwitterten Felsen des Sasso rosso.

Die südliche Bauart der Häuser, die Thürbogen und Loggien und die Sprache der Bewohner sind das einzige, was uns daran mahnt, daß wir in „Südeuropa“ sind. Die Natur des Hochthales aber ist nicht milder als die irgend einer Alpengegend im Norden, höchstens eine stärkere Lichtfülle der Luft giebt der Phantasie der Reisenden recht, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit jenseit des Gotthards gleich Italien „riechen“ wollen. Es kann sogar geschehen, daß über dem Nordportal des Gotthards blendender Sonnenschein fliegt, uns aber Airolo auch im Sommer mit einem Schneegestöber empfängt, das einer deutschen Weihnacht alle Ehre machen würde. Vom Oktober bis in den Mai liegt das Dorf im Schnee, oft unter dem Schnee, denn es fallen hier unglaubliche Massen, so daß manchmal die Schneedämme zu beiden Seiten der Gotthardbahn den Rauchfang der Lokomotive überragen. Dazu giebt es 20 und mehr Grad Kälte. Airolo ist, von der Sonne überleuchtet, ein unvergleichliches Winterbild. Von Zeit zu Zeit aber unterbricht der Schreckensruf des Unglücks die starre Ruhe. Es hat weit und breit im Alpengebiet kaum ein Dorf mit einer so großen Chronik von Lawinen-, Bergsturz- und Brandunfällen aufzuwarten wie Airolo. Im Jahr 1877 ist es fast vollständig abgebrannt, in den ersten Tagen des Jahres 1895 haben Lawinen, in den letzten des Jahres 1898 ein Bergsturz vom Sasso rosso eiueu Teil seiner Häuser und je auch einige Menschenleben vernichtet und der Ort schwebt in ewiger Gefahr.

Umsonst aber hat man den fast 4000 Einwohnern schon den Gedanken nahe gelegt, die Heimstätten preiszugeben und sich nicht weit vom alten, im sicheren Schutz vor Lawinen und Steinschlag, ein neues Dorf zu gründen. Sie hangen an dem Fleck Erde, wo die Eltern und Voreltern gewohnt haben, und ob ihm die Gotthardbahn die ehemaligen Lebensquellen, die mühselige Offenhaltung der Gotthardstraße in Sturm und Schnee und den Fuhrdienst über den Paß, entzogen hat, ob die Naturgewalten es immer und immer wieder schädigen, so versteht es das zähe Bergvolk doch, dem Dorf das Gepräge schöner Wohlhabenheit zu bewahren. Viele Airolesen verdienen in der Fremde mit Fleiß und Sparsamkeit in Jahrzehnten ein kleines Vermögen, das sie später behaglich in ihrer Heimat verzehren, und seit Jahren lockt das sonnige, ruhige und frische Dorf. das aus der Zeit des Paßverkehrs eine Reihe alter guter Gasthöfe besitzt, im Sommer eine wachsende Schar von Bergfreunden an. Es ist Ausgangspunkt für eine Anzahl sehr dankbarer Ausflüge und Bergtouren im schönheitsreichen Gotthardgebiet. Und malerisch belebt sich der Ort hier und da mit Abteilungen der Festungstruppen des Gotthards, von dessen Flanken zwei Forts, Stuei und Fondo del Bosco, auf Airolo niedergrüßen. Die seitwärts auf dem Kopf ruhende baskische Mütze und der starke Bergstock, der sich zu dem Gewehre gesellt, kennzeichnen die braungesengte Mannschaft, die in Sonne und Wind, in Nacht und Wetter einen überaus harten und gefährlichen Dienst verrichtet.

Airolo ist nur ein flüchtiger Augenblick auf der Fahrt über den Gotthard und der Schnellzug bält seinetwegen nicht einmal an. Horcht man genau auf den Schlag oer Räder, so singen sie in einförmiger Kraft: „Südwärts – südwärts!“ Nach der Hochgebirgsidylle von Airolo führt uns die Bahn in die Stalvedroschlucht, deren zerklüftetes Gestein in abentenerlicher Weise die Gestalt riesenhafter Schloßruinen nachahmt und treffliche Theaterdekorationsvorbilder für die Ausstattung von Raubritterstücken liefern kann. Feucht und kühl weht der Wasserstaub des Tessins über kletternde Tannen zu der hohen Brücke empor, auf der der Zug über den nördlichen Eingang der Schlucht setzt, und eine Weile ist uns, die Naturbilder im Süden des Gotthards seien nur eine Fortsetzung dessen, was wir an Schlucht und Fels schon zur Genüge auf seiner Nordseite genossen haben. Doch getrost! Die Stalvedroschlucht ist die letzte nordische Episode der Fahrt, in raschem Flug erreichen wir Gegenden, wo wir nicht nur mit dem geographischen Bewußtsein, sondern mit Auge und Herzen im Süden sind. Bei Faido gelangen wir schon in den Bereich der Walnußbäume und Edelkastanien, bei Giornico klettert schon der Wein an Feigenbäumen empor, und in den Gärten von Bellinzona, das nur eine Schnellzugstunde unterhalb Airolo liegt, behält Konrad Ferdinand Meyer recht:

„Nun, Herz, beginnt die Wonnezeit
Auf Wegen und auf Stegen,
Mir strömt ein Hauch von Ueppigkeit
Und ew’gem Lenz entgegen.“

J. H.     


Winterwohnung und Winterschlaf in unserer höheren Tierwelt.

Von Friedrich Arnold.

Der rauhe Winter ist ein grimmiger Feind alles Lebens. Viele Tiere suchen ihm darum zu entfliehen; die einen, wie namentlich die Zugvögel, verändern ihre Wohnplätze, andere wieder verfallen während der Winterszeit in einen lethargischen, dem tiefen Schlafe ähnlichen Zustand. Die Schnecken, die meisten Insekten, die Kriechtiere und Lurche halten den Winterschlaf, aber auch unter den höher organisierten Säugetieren giebt es eine Anzahl von Arten, die auf diese Weise in oft kunstvoll gebauten „Wohnungen“ den Gefahren der rauhen Jahreszeit auszuweichen suchen.

Das Treiben dieser Geschöpfe zählt zu den seltsamsten und anziehendsten Abschnitten des Tierlebens, und eine kurze Uebersicht der wichtigsten Vertreter der Winterschläfer in der Heimat wird wohl vielen Tierfreunden unter unseren Lesern willkommen sein.

Zunächst wollen wir die Centralalpen Europas aufsuchen, um einen der längsten und tiefsten Winterschläfer kennenzulernen.

Das Alpenmurmeltier, mit der Schneemaus der letzte Vertreter höheren animalischen Lebens in der Eis- und Schneeregion. hält in unserer Tierwelt den längsten und starrsten Winterschlaf: acht Monate hindurch. Es muß großen Fleiß gegen Ende der kurzen, fröhlichen Sommerzeit anwenden, um sich seine Winterwohnung zu bauen. Das liebenswürdige, drollige Tier hat die Größe eines starken Hasen, ist durch zwei Paar gewaltiger, vorn goldgelber Nagezähne, kräftige Grabfüße, dichte und rauhe Behaarung vortrefflich zu seiner großenteils unterirdischen Existenz ausgerüstet. Den Sommer hat es in den höchsten, einsamsten Regionen verbracht, Ende August zieht es wieder etwas tiefer und legt, immer noch hoch über der Waldgrenze, den Winterbau an. In durchgängig größeren Gesellschaften wühlen die Murmeltiere eine meist sehr lange Hauptröhre bergein. anfangs etwas abwärts, dann geradeaus, oft aber auch in Windungen zwischen Felsen und Gestein dahinführend, am Schlusse dann stets wieder etwas nach oben steigend. Diese Röhre wird kurz nach dem Eingange schon so enge, daß man kaum eine mittlere Mannesfaust durchzwängen kann. An ihrem Schlusse nun erweitert sie sich zu einem geräumigen Kessel, der Wohnung. Die ganze Grabarbeit wird sehr sauber ausgeführt, nur wenig losgewühlte Erde herausgeschafft, zum größeren Teil wird sie in dem langen Gange und einzelnen, scheinbar zwecklosen kurzen Seitengängen verteilt und festgetreten. Die Zahl dieser Seitengänge ist sehr verschieden. Stets ist einer vorhanden, und zwar kurz nach der Einfahrt. Diesem folgen manchmal 2 bis 3, manchmal 10 und mehr kürzere und längere Seitenkanäle, offenbar haben die Tiere hier zu starken Widerstand, wie z. B. Steinboden, gefunden und den Gang dann aufgegeben. Der Kessel, die Winterschlafkammer, liegt etwa 30 bis 40 cm unter dem Erdboden, manchmal auch doppelt so tief, ist gar sauber mit kurzem, trockenem Heu ausgepolstert und enthält einen Vorrat von Gras und Kräutern aufgestapelt, welchen das Murmeltier in wochenlangem, klugem Fleiße eingetragen hat und der oft so groß ist, daß ein Mann ihn nicht wegtragen kann. Selbstverständlich trägt das Murmeltier den Vorrat mit dem Maule zusammen: Plinius ist der Erfinder des lustigen Märchens, das sich bis heute erhalten hat und heute noch geglaubt wird: „die Alpenmäuse (Murmeltiere) schaffen das Futter so in ihre Wohnungen, daß sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0860.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2023)