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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Abendbesuchen, Spaziergänger: und solchen Wippchen, dann hatten sie die längste Zeit bei einander gelebt!

„Ach, Frau Prieke …“ Klärchen zog in hilfloser Verlegenheit die Handschuhe ein paarmal aus und an, „wenn Sie wüßten, wie oft er sich entschuldigt hat wegen des Pakets! Am Ende konnte er doch gar nichts dafür, daß er’s aufgemacht hat, und ein anderer hätte es einfach durch das Mädchen herübergeschickt …“

Da die Buchbindersfrau nur zustimmend nickte, sprach Klärchen eifrig weiter. „Von seiner Mutter hat er auch erzählt, das muß eine zu liebe Frau sein und … finden Sie ’was dabei, liebe, gute Frau Prieke, wenn wir uns noch ein Stündchen lang die Schaufenster zusammen ansehen? Ich hab’ so Lust, einmal herauszukommen, und der Herr Assessor hat versprochen, mich pünktlich wieder abzuliefern ...“

Frau Priekes Gesicht hatte sich zusehends aufgehellt. Nun, da sie die unschuldigen jungen Augen in solch brennender Frage auf sich gerichtet sah, nahm sie bedächtig die Brille von der Nase und putzte und hauchte mit großer Umständlichkeit daran herum.

„Jh wo, Fräuleinchen! Gehen Sie man ruhig noch ein bißchen die Leipziger Straße lang, zu sehen giebt’s da genug! Und wenn der Herr von drüben Sie begleiten will, so ist da auch weiter nichts bei, denn was ein anständiges Fräulein ist, die kann in Gottes Namen mit irgend wem spazieren geh’n. Ich hab’ mich auch wohl, ehe das mit Prieke und mir perfekt wurde, von diesem oder jenem meiner Bekannten Sonntag abends ausführen lassen, und es ist mich deshalb noch lange keine Perle aus meiner Krone gefallen.“

Sie hatte nicht übel Lust, sich in Jugenderinnerungen zu verlieren, aber Klärchen hörte die Turmuhr schlagen. Schon halb Neun! Und er wartete gewiß unten …

„Adieu, Frau Prieke … schönen Dank! Und Punkt Zehn bin ich da.“

Sie faßte die gutmütige Frau rundum, dann lief sie mit flinken Füßen davon.

Unten aber, im dämmernden Hausflur, stand sie hochatmend einen Augenblick still, klappte den Kragen hoch und zog die schwarze Pelzkappe tiefer in die Stirn, ehe sie über den knisternden Schnee des Hofes hinüber schritt zum Vorderhause.

Der Assessor, der ihr in strahlender Erwartung entgegenging, konnte trotz eifrigsten Bemühens von ihrem Gesicht nichts weiter entdecken als ein paar hochrote Öhrchen zwischen Haar und Mantelkragen und ein schmales Nasenspitzchen, auf das der Zufall gerade einen großen Chenilletupf des dunklen Schleiers placiert hatte.

Schauderhafte Mode, dachte Adolf Berger im stillen, aber er war innerlich zu froh und glücklich, um sich durch irgend etwas den Genuß der Stunde trüben zu lassen.

Wie das verkörperte böse Gewissen ging sie neben ihm her, mit gesenkter Stirn und kleinen Schritten, ängstlich einen halben Meter Seitenabstand innehaltend.

Auch die Unterhaltung wollte zuerst nicht recht in Gang kommen: Klärchen gab kurze, stockende Antworten, als habe sie innerlich noch gegen ein Gefühl der Unfreiheit anzukämpfen.

Er aber fand sie gerade in ihrer Verwirrung unbeschreiblich reizend.

In ritterlicher Art half er ihr über die erste Verlegenheit hinweg, indem er lebhaft zu plaudern begann. Und wie sie allmählich zutraulich wurde, war es ihm ein leichtes, durch gelegentlich hingeworfene Fragen die einfache Geschichte ihres jungen Lebens aus ihr herauszulocken.

Er wußte sehr bald, daß sie vor nicht langer Zeit ihren Vater verloren hatte, und daß dieser Amtsrichter gewesen, aber eines unheilbaren Leidens wegen schon lange vor seinem Tode hatte pensioniert werden müssen. Auch das hörte er heraus, daß es bitter schwer gewesen war, mit den kleinen Mitteln ein anständiges Leben zu führen und dem Kranken die notwendigsten Erleichterungen zu verschaffen.

„Ich hab’s damals heimlich mit dem Sticken versucht,“ erzählte Klärchen, „aber es bringt so wenig ein, ich habe auch oft wochenlang auf Bestellungen warten müssen. Da bin ich denn auf die Idee gekommen, mich im Putzmachen zu versuchen, Mutter sagte immer, ich hätte eine glückliche Hand.“

„Das glaube ich,“ sagte Adolf Berger leise und warf den kleinen Händen, die so geschickt Wunden zu verbinden wußten, einen zärtlichen Blick zu.

Sie hatte es nicht gehört. „Vater durfte nichts von meinem Verdienst wissen,“ plauderte sie weiter, „er war so eigen darin! Und mir ist’s im Anfang auch nicht einerlei gewesen, für fremde Menschen zu arbeiten,“ gestand sie freimütig, „man hat doch auch seinen Stolz. Aber wie ich älter geworden bin, hab’ ich eingesehn, daß Arbeiten keine Schande ist, und als dann der Vater starb, hab’ ich’s der Mutter abgebettelt, daß ich mir hier eine Stellung suchen durfte. Es ist mir schnell geglückt, ich bin schon Directrice in einem kleineren Geschäft, und wenn’s so weiter geht,“ meinte sie, ihn glücklich ansehend, „kann ich zum nächsten Christfest mit ruhigem Gewissen heimfahren.“

Still schritt er neben ihr her, ihren kindlich offenherzigen Worten lauschend; es ging ein Hauch der Reinheit und Schönheit von ihr aus, der seine Seele fast andächtig stimmte. Und während sie in ahnungslosem Vertrauen ihr Denken und Hoffen vor ihm bloßlegte, wuchs ein starkes, heiliges Gefühl in seinem Herzen auf.

Nur als sie von ihrem „Alter“ sprach, lächelte er, und ein schalkhaft prüfender Blick huschte über sie hin. Lieber Gott, blutjung sah sie aus mit dem roten Hauch, den die Winterluft auf ihre Wangen gezaubert hatte! Den Schleier hatte sie nun doch hinaufgeschoben.

„Halt,“ sagte er, plötzlich den Schritt hemmend, „wir laufen da plan- und ziellos in den Straßen umher und vergeuden unsre kostbare Zeit. Also vor allen Dingen – Programm! Was wollen Sie sehen? Den echten, rechten Berliner Weihnachtstrubel, oder den Tiergarten im Schnee?“

Sie bog den Kopf mit einem sehnsüchtig verlangenden Ausdruck tief in den Nacken.

„Also Tiergarten,“ deutete er jubelnd die stumme Antwort. Wie es ihn verlangte, aus der gleichgültigen Menge herauszukommen, mit ihr allein zu sein unter den schweigenden, schimmernden Bäumen!

„Kutscher ...“ Ehe sie’s hindern konnte, hatte er sie in den offenen Wagen gehoben und wickelte sorgsam die Decke um ihre Füße.

„So, nun lehnen Sie sich hübsch fest zurück und machen Sie die Augen weit auf, Fräulein Klärchen, wir sehen uns das bunte Treiben nun von oben herunter an.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0822.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2023)