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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Auflagen erlebt, ist das Vorbild des deutschen Dorfromans und führt in der Form einer Erzählung den Gedanken aus, daß nur eine in die tiefsten Schichten der Bevölkerung hinunterreichende Erziehung, welche die Gesamtheit der Kräfte und Anlagen der Kinder entwickle und der guten Gesinnung den Vorzug vor dem bloßen Wissen gebe, die Menschheit von den Gebrechen der Zeit erlösen könne.

Mit einem Schlag trug das Buch dem Verfasser Weltruhm ein, aber seine folgenden Werke fanden bei den Zeitgenossen nicht die gleiche Anerkennung; erst die neuere Pädagogik hat auf sie als besonders reiche Fundgruben erzieherischer Anregung nachhaltig aufmerksam gemacht, und achtzehn lange Jahre lebte Pestalozzi mit seiner Gattin als ein von der Menschenfreundlichkeit seiner Schuldner abhängiger Landwirt und pädagogischer Schriftsteller in demütigenden Verhältnissen, unter dem Vorurteile, dem sich nur wenige Freunde nicht anschlossen, er sei ein zwar herzensguter, aber für das Leben unbrauchbarer Thor.

Da kam im Jahre 1798 jener Einbruch der Franzosen in die Schweiz, der die alte Eidgenossenschaft zusammenschlug und auf ihren Trümmern die Helvetische Republik errichtete. Unter den kleinen alten Staatswesen, die der neuen Verfassung den Huldigungseid versagten, befand sich Nidwalden. Zweitausend schlecht bewaffnete Hirten stellten sich sechzehntausend kriegsgeübten Franzosen gegenüber. Ein kurzer Kampf – dann war Nidwalden ein ungeheures Grab. Eine Menge von Waisen, denen Vater und Mutter erschlagen waren, irrte durch die verbrannten Dörfer. Da sandte Legrand, einer der Direktoren der neuen Republik, Pestalozzi nach Stanz, daß er die Waisen sammle. Und vom Dezember 1798 bis in den Juni 1799 war nun Pestalozzi den vier- bis zehnjährigen unterwaldnerischen Kindern, die, mit Ungeziefer beladen, in Lumpen gekleidet, in seine Anstalt traten, alles, Vater und Lehrer, Mutter und Magd. Er selber nannte lebenslang die Tage von Stanz seine segensreichsten. Und obgleich sie seine Gesundheit brachen, Auflösung das Ende des Unternehmens war, gaben sie ihm die Kraft des Selbstvertrauens.

„Ich will Schulmeister werden!“ – Auf dem Schloß Burgdorf im Kanton Bern errichtete er mit Hilfe der Regierung eine Anstalt, in der schweizerische Lehrer in seine Erziehungsmethode eingeführt werden sollten, in jene Methode, die allen Unterricht auf die Grundlage der Anschauung, der sinnlichen Wahrnehmung, auf die naturgemäße Entwicklung in jedem Lehrfach zurückführt und die höchste Aufgabe der Erziehung in der „allgemeinen Emporbildung der natürlichen Kräfte des menschlichen Geistes“ erblickt. Die Begründung dieser Methode, die in der Gegenwart als der Anfang und das Ende aller Unterrichtskunst anerkannt wird, ist das zweite große Verdienst Pestalozzis, die Ergänzung, ohne welche eine allgemeine Volksbildung kaum je hätte Wurzeln schlagen können. Indessen zeigten sich schon in Burgdorf und später im Kloster Münchenbuchsee, wohin die Anstalt verlegt wurde, die natürlichen Mängel Pestalozzis, der, wie schön er auch in „Lienhard und Gertrud“ die sittliche Bedeutung der Ordnung des Haushalts schildert, eine klare haushälterische Lebensordnung nie zu führen vermochte. Die Anstalt ging ihrer Auflösung entgegen und Pestalozzi folgte einem Rufe nach Jfferten (Yverdon) im Waadtlande, wo eine Erziehungsanstalt für Kinder aus allen Ständen gegründet worden war. Und siehe da, der Mann, der zeitlebens nicht orthographisch schreiben konnte, der sozusagen nie über die Grenze seines engen Heimatlandes hinausgekommen ist, wird von Jüngern unterstützt, die im einzelnen seine Ideale klarer auszulegen und der Wirklichkeit des Lebens anzupassen vermögen als er selbst, der erzieherische Prophet des gebildeten Europas.

Bis ins Jahr 1817 vermochte sich das von Pestalozzi geleitete Institut auf der Höhe seines Glanzes zu erhalten, seine Leistungen galten namentlich im Rechnen und Sprachunterricht als unvergleichlich, Pestalozzische Lehrer wurden nach Madrid, Neapel und Petersburg berufen, der Kaiser von Rußland bezeigte ihm persönlich sein Wohlwollen, und Fichte erblickte in ihm und seinem Wirken den Anfang einer Erneuerung der Menschheit. Aber unter der Lehrerschaft entstanden Zwistigkeiten, im Jahre 1825 löste Pestalozzi das Institut auf und siedelte als fast Achtzigjähriger auf den Neuhof zurück.

Das Ende seines Lebens war bittere Enttäuschung, und aller Ruhm von Jfferten entschädigte ihn nicht für die Wahrnehmung, daß die unmittelbare Wirksamkeit seiner Erziehungskunst statt dem verlassenen armen Volke, das er mit der ganzen Leidenschaft seines Herzens liebte, nur den höheren Ständen zu Gute kam. Denn er erlebte es nicht mehr, wie die Segnungen seiner langen Thätigkeit bis in die Tiefen des Volkslebens herniederstiegen.

Er starb, nachdem er seine getreue Gattin schon zwölf Jahre zuvor verloren hatte, am 17. Februar 1827 zu Brugg; er wurde zu Birr in der Nähe des Neuhofes bestattet; im fallenden Schnee sang ihm ein kleines Geleite von Lehrern und Schülern ein Lied ins Grab.

Sind aber auch alle seine äußeren Werke verfallen, so ist doch sein Leben – mit den Augen unserer Zeit gesehen – ein erhebend fruchtbares und gesegnetes gewesen.

Zuerst war es Preußen, das in den erzieherischen Ideen Pestalozzis Mittel und Wege zur nationalen Sammlung und Wiedergeburt suchte und fand, war es der preußische Minister Freiherr vom Stein, der eine Reihe junger Männer nach Jfferten schickte, damit sie, vom Geist Pestalozzis überstrahlt, später in der Heimat eine Schar von Pestalozzianern zu Lehrern der Jugend und des Volkes heranzögen.

Der Versuch trug Früchte: er entfesselte die Kräfte und stärkte das Volk zur höchsten Thatkraft, und den Lebensbedürfnissen sorgfältiger angepaßt, als der unbeholfene Meister es zu thun vermocht hatte, kamen dessen Ideen wenige Jahre nach seinem Tod aus Deutschland in Pestalozzis Heimat zurück, nach der Stadt und dem Kanton Zürich durch den Württemberger Thomas Scherr von Hohenrechberg, den hochverdienten Gründer der zürcherischen Volksschule.

Seither ist die Saat Pestalozzis nirgends so reich in seinem eigenen Sinn und Geiste aufgegangen wie in der Vaterstadt, wie in der Heimat des Pädagogen. Zürichs Opferwilligkeit und Leistungen auf dem Gebiet der allgemeinen Jugendbildung sind ohne gleichen. Von den Hügeln, welche den Kern der Stadt umschmiegen, leuchten die Volksschulhäuser wie Schlösser auf das blühende Gemeinwesen, der Stolz jedes Dorfes ist ein palastähnliches Schulhaus. Und ihren Kindern – auch den Tausenden und Tausenden aus den anderen Ländern – geben Stadt und Kanton durch eine hervorragend gebildete Lehrerschaft unentgeltlichen täglichen Unterricht vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahr. Sie geben ihnen unentgeltlich alle Bücher und Lehrmittel, sie tränken die Kränklichen unter ihnen mit Milch, sie führen die Blassen in die Ferienkolonien auf Bergeshöhen in Luft und Sonne, sie leiten die Jugend zu Spiel und Handfertigkeit, und fast unbegrenzt ist Jünglingen und Mädchen, die das schulpflichtige Alter schon überschritten haben, kostenlose Gelegenheit geboten, die Kenntnisse nach Neigung und Beruf zu erweitern. Ebenso sorgen Stadt und Kanton mit hingebender Fürsorge für diejenigen, die Pestalozzi am meisten am Herzen lagen, für die Schwachsinnigen und Verkümmerten; und damit den ärmeren Erwachsenen, so wie es Pestalozzi gewollt, die edeln Genüsse des Lebens zugänglich seien, streut eine große Gesellschaft, die seinen Namen trägt, nicht nur guten Lesestoff in ihre Kreise, sondern vermittelt ihnen entweder zu kleinsten Preisen oder unentgeltlich den Besuch von Volksvorstellungen in den prachtvollen Räumen des Stadttheaters und fein gewählter Konzerte in den Prunksälen der Tonhalle.

So ist Zürich nicht nur die Stadt Pestalozzis, weil der Zufall der Geburt seine Wiege in eines ihrer Häuser gestellt hat, sondern auch in dem höheren Sinne, daß sein Geist aufs lebendigste in ihr webt und lebt.

Das Erzbild, das sich seit dem 26. Oktober vor einem der, schönsten Volksschulhäuser an der lebensvollen Bahnhofstraße erhebt, ist nicht nur ein Denkmal Pestalozzis, es ist auch ein Denkmal des veränderten Volksgeistes, der in Hinsicht auf das blühende Volksschulwesen Zürichs ein symbolisches Wort aus „Lienhard und Gertrud“ erfüllt: „Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber ihre Seelen taglöhnern nicht.“

Erst wenn das große sittliche Ideal, das in diesen schlichten Worten ausgesprochen ist, eine allgemeine Wahrheit unter den Menschen geworden sein wird, ist die Sendung dessen, den sein Volk auf das Piedestal gehoben hat, erfüllt.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0816.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2023)