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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

In der Sonne selig sind die Liebenden und schmieden in der großen stillen Einsamkeit des Gebirgs Pläne der Zukunft.

Viel zu früh kommt Thomas mit den Pferden auf die Berninahöhe, aber er kommt.

Und Markus steht und grüßt und grüßt Cilgia, so lange er im Abendlicht einen Schein der Reitenden erhaschen kann.

Als er sich umwendet, erblickt er ein Rudel Gemsen.

Sie sprengen davon.

Er aber spricht: „Ihr närrischen Tiere – was fürchtet ihr Markus Paltram?“

Und einen Blick wirft er in die blauen Abendtiefen von Puschlav:

„Behüte und begleite dich Gott, meine liebe, herrliche Cilgia!“


9.

Sonngolden zieht der Herbst über die Berge. Es jagt der fröhliche Pfarrer Taß, es jagt, wer eine Flinte besitzt und ehr- und wehrfähig ist; mit dem Vater oder Großvater geht der halbwüchsige Bub in die Gemsreviere, hochklopfenden Herzens kniet er neben dem ersten erlegten Tier und fängt mit zitternden Händen das Blut in die Jagdschale auf.

Einer aber jagt nicht – jener, der schon als Knabe zu Madulein als unvergleichlicher Jäger galt.

Allen Verhöhnungen zum Trotz bleibt Markus Paltram daheim am Schraubstock.

Eines Tages jedoch hat die fröhliche Jagd im Hochgebirge ein Ende.

Wenn die Winzer drunten im Veltlin jauchzend Weinlese halten, so erbeben die Glieder der Bernina und im Erwachen flüstert sie: „Schmückt euch, ihr Kinder!“ – Und die Felsspitzen, die ihr am nächsten stehen, adeln sich mit Schnee. „Schnee aufs Haupt!“ betteln da die Kleinen; eines Morgens, wenn die ferne Welt der Tiefe sich noch in goldigen Herbstträumen wiegt, setzt sich jeder Zaunkönig von Berg die Krone auf, ja jede Tanne im tiefen Thal schmückt sich, und eines Sonnenaufgangs flammt alles Land im Schnee.

Eine gewaltige Freude erfaßt das Volk. Denn barfuß und im Strahlengewand schreitet die Sonne durch die Winterlandschaft des hohen, hellen Engadins und schickt seinem Volk einen Weckruf ins ruhige Herz; was an Weltlust in den behäbigen Seelen lebt, erwacht.

„Schlitteda – Schlittenfahrt!“ heißt das Zauberwort.

In vollen Zügen genießt Cilgia die Freuden des Winters. Durch die Dörfer fliegen die altertümlichen Gespanne, zwanzig, dreißig, einmal im Winter, wenn sich die Dörfer zu einem großen Ausflug nach Puschlav oder nach Casaccia im Bergell oder nach Süs am Eingang des Unterengadins vereinigen, wohl über hundert. Das Vorderteil jedes Schlittens ist ein seltsames Tier, bald ein geschnitzter Steinbock mit einem echten mächtigen Hörnerpaar, bald ein Löwenhaupt mit fast menschlichen Zügen, ein schlanker Schwan, ein eingetrocknetes Bärenhaupt oder ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt. Eine fröhliche Menagerie ländlicher Holzschnitzerei und Farbenkunst ist beisammen, fröhlicher aber ist das junge Volk, das mit klingendem Spiel auf den Fabeltieren durch den Sonnenglast der weißen Landschaft saust.

Die Gesellschaft der vom Reif gepuderten Jünglinge und Mädchen könnte von einem Fürstenhofe sein. Mit dem herrlichsten Pelzwerk, das die Läden der Großstädte bieten, haben von jeher die aus der Fremde heimkehrenden Engadiner den Ihrigen Angebinde gemacht, mit so köstlichen Stücken, daß sie keinem Wechsel der Kleidersitte unterworfen sind und sich in fast frischem Glanze von der Mutter auf das Kind und die Enkelin vererben. Wird aber einmal in der scharfen Luft ein Mädchenhals oder ein Handgelenk bloß, so schimmern sie von altem Gold.

Und die fröhlichste unter den Jungfrauen ist Cilgia. Der Sturm hat den tiefen sandigen Schnee vom Eis der Seen weggefegt. Es liegt in mauerdicken Spiegeln so durchsichtig und krystallen über den Wassern, daß man wie durch ein Fenster in die Tiefe sieht und die Felsenriffe und die Baumtrümmer im Grunde erkennt. Ueber die zerbrechlichen, gläsernen Spiegel von St. Moritz, Camphér, Silvaplana und Sils bis zur einsamen Höhe von Maloja sprengen mit hartem dröhnenden Huf die Pferde. Da erbangt die mutige Cilgia, Markus legt den Arm um ihre Hüfte und sie hindert es nicht; in träumendem Glück jagen sie über die Schrecknisse der Tiefen.

„Geschähe was wollte, in Leben und Tod blieben wir beisammen, Markus!“ flüstert sie.

„Aber doch lieber im Leben,“ antwortet er lachend.

O, er ist so hellauf, so stillglücklich, ihr Markus, er lacht jetzt im Tage mehr als früher im Jahr, er hat aus seinem Ersparten einen Pelzmantel gekauft und die Pelzmütze mit dem schmalen, auch wieder verbrämten Dächelchen steht ihm gut. Was für ein schönes männliches Antlitz schaut darunter hervor. Es ist, als habe sich das Ueberkühne, für viele fast Beängstigende in seinen Zügen gemildert: sie seien offener geworden, der Blick seines Auges habe etwas vom Ausdruck der Adlerschärfe verloren und sei wärmer geworden.

Er ist der liebste junge Mann im ganzen Engadin, denkt Cilgia mit heimlichem Stolze.

„Und der geachtetste,“ darf sie sich wohl sagen.

Markus ist nicht eigentlich eine gesellige, am wenigsten eine laute Natur. Nur im unbelauschten Zwiegespräch mit ihr geht ihm das Herz ganz auf, im Verein mit andern ist er der ruhige, kluge Beobachter, er spricht selten einen andern jungen Mann oder ein Mädchen an; wenden sie sich aber an ihn, so findet er oft ein bestrickendes Wort, ein hinreißendes Lächeln und einen Herzenerobernden Blick.

In dem von Fortunatus Lorsa gestifteten Jugendbund, der sich bald da, bald dort zur Beratung der Dinge der Heimat zusammenfindet, ist er der Schweigsamste, er läßt die andern sprechen; aber wenn keiner mehr etwas Kluges weiß, so steht er auf und trifft mit knappem Wort den Nagel auf den Kopf, ja er zerstört nicht selten mit einer fast grausamen Ueberlegenheit die kühnen Hoffnungen, die die Jünglinge an den Liedern Konradins von Flugi, des heimlichen Poeten, entzünden. Das Gesicht des Landammanns müßte man sehen, wenn er diese Lieder hörte, wenn er erführe, daß sein Jüngster ein nichtsnutziger Dichter ist! – Gotts Blitz! – wenn er erführe, daß sein Herz an Menja Melcher hängt, an der lieblichen siebzehnjährigen Hagrose!

Der Landammann hat für Herrn Konradin andere Pläne. Warum kommt er so oft vor das Pfarrhaus gefahren, warum führt er mit Cilgia so feine verbindliche Redensarten, der alte schlaue Diplomat?

Verlorene Liebesmühe, Herr Junker, denkt Cilgia und läßt voll Mutwillen den alten Herrn zappeln wie einen Fisch und tröstet Menja, die über diese Besuche unglücklich ist: „Ich will mit dem Landammann einmal offen reden!“

„Ums Himmels willen, nein,“ bat Menja erschreckt, „das wäre das Ende! Mein Vater ist ja fast mehr gegen unsere Liebe als der Landammann.“

Sie ist sehr unglücklich, die arme Kleine.

Dafür sonnt sich Cilgia im eigenen Glück.

Wie schön sind die Abende, wenn Markus nach Einbruch der Nacht ins Pfarrhaus gegangen kommt! Der Onkel hat alles Mißtrauen und alle Zurückhaltung gegen ihn aufgegeben, er liebt ihn und vermißt ihn, wenn er einmal nicht an die Thüre pocht; man liest, wenn draußen der Sturm seufzt, die Bündnerchroniken und spricht verständig über die alte und neue Zeit; man sitzt oft bis spät in die Nacht in glücklichem Verein zusammen und der Pfarrer ist dann immer besonders aufgeräumt. Hie und da spielt er früh den Müden, bietet ein freundliches Gute Nacht und sagt, Markus die Hand reichend: „Ihr könnt schon noch ein Stündchen dableiben und Cilgia, wenn sie nicht müde ist, Gesellschaft leisten.“

Das ist sehr rücksichtsvoll vom Onkel Taß und beide danken es ihm. – –

Am St. Nikolaus-Markt brachte der Pfarrer als Geschenk die Verlobungsringe von Chur, und in der Neujahrsnacht, als die Glocken der Dörfer fern und nah’ im feierlichen Schweigen des verschneiten Hochgebirgs das alte Jahr aus-, das neue einläuteten, steckte er ihnen die Ringe an die Finger.

In jubelnder Hoffnung, in inniger Andacht blickten sie auf

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0716.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)