Seite:Die Gartenlaube (1899) 0700.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

ihn endlich doch, noch ehe er entflieht, die Waffe des Rächers trifft.“

Mit übermenschlicher Anstrengung bewahrte Anymeh auch jetzt ihre erkünstelte Ruhe. Ohne durch eine Miene zu verraten, was in ihr vorging, forschte sie Kerim aus nach jeder Einzelheit des geplanten Ueberfalles. Mit gleicher Selbstbeherrschung wies sie ihn dann von sich, indem sie ihn glauben machte, ihr Onkel Abdallah sei beim Hauptmann der Schloßwache und müsse mit diesem sogleich erscheinen. Das wirkte. Kaum aber war sie allein, so eilte sie selbst zum Eingang des Palastes und verlangte, daß sie dem Hauptmann vorgeführt werde. Mit fliegendem Atem berichtete sie alles, was sie von Abdul Kerim gehört hatte; der Hauptmann beschloß, an der Spitze einer Schar Auserwählter dem Mordanschlag zu begegnen. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, erfolgte der Aufbruch vom Garten aus auf der Flußseite. Anymeh begleitete den Zug, gleich den anderen auf feurigem Roß, sie trieb zu äußerster Eile. Auf dem kürzesten Weg gelangten sie zu der von Thagi gewählten Landungsstelle.

Als Anymeh mit ihrer Schar dort eintraf, fielen gerade die ersten Schüsse der Wegelagerer. Noch im Reiten erwiderten die Palastsoldaten das Feuer. Anymehs Blick suchte den Geliebten: beim unsicheren Licht des hinter Wolken hervortretenden Mondes erkannte sie, wie gerade einer der Verschworenen mit erhobener Klinge auf ihn zustürztet Sie warf sich dazwischen. Aber der Hieb, der ihr galt, durchschnitt nur ihre Kapuze, dann kreuzte ihn Thagis gutes Schwert, das nun den Gegner zu Boden streckte. Die anderen Angreifer waren inzwischen gefallen oder geflohen. Mirza Thagi sah erstaunt, wie aus der Kapuze des Mantels, der Anymehs Gestalt umschloß, ihr tieferregtes Gesicht sich ihm zuwandte.

„Anymeh?“

„Dem edlen Fräulein verdankt Ihr Eure Rettung, Amire!“ sagte, den Säbel senkend, der herzutretende Hauptmann der Palastwache.

Anymeh aber sank fassungslos vor dem Geretteten nieder, umfaßte seine Knie und stammelte unter Thränen: „Vergebt mir, Amire!“

Dieser jedoch hob sie empor und zog sie in überströmender Zärtlichkeit an sich: „Ich dir vergeben? Anymeh! Daß du mir vergiebst, das schenkt mir das Leben doppelt!“

„Amire, ich trachtete Euch nach dem Leben!“

„Und wurdest meine Retterin!“ –

Auf der weiteren Flucht war Anymeh Thagis Begleiterin. Ihr Kismet, die Schicksalsstimme in ihrer Brust, ging nun doch herrlich in Erfüllung. Vor der Abreise vom heimischen Gestade ward sie Thagis eheliches Gemahl.

In Tiflis wurde Mirza Thagi ein hochangesehener Gelehrter, der in Begleitung seiner Frau große Reisen durch die Länder Europas unternahm, über die er an Nassr-Eddin in lebendigen Schilderungen berichtete. Dieser fand nie den Mut, seinen großen Reformminister zurückzuberufen. Aber Thagis Reiseberichte sollen es vornehmlich gewesen sein, was den Schah später zu seinen eigenen Reisen nach Europa bestimmte.

In Persien hatte sich nach des Amire Verschwinden der Glaube verbreitet, der einst so allmächtige Vezier sei durch eine Rotte Verschworener umgebracht worden, und dieser Glaube erhielt sich bis auf den heutigen Tag.


Die Papiertüte.

Man hat wohl heutzutage an keiner Ware einen solchen Ueberfluß wie an Papier, wenigstens an bedrucktem. Wenn man etwas einwickeln will, so papiert man’s ein; und da Papier genug da ist, so wird alles einpapiert. Das Papier bildet eine Art zweiter Haut und eine neue Schale um alle Dinge: man trägt kein Buch, keinen Blumenstrauß, namentlich aber keine Frucht, überhaupt nichts Eßbares ohne diese schützende Hülle über die Straße. Auch was in den Schrank oder in den Koffer kommen soll, pflegt vorher noch einpapiert zu werden; bei den sizilianischen Bauern giebt es Mädchen, die gar nichts weiter zu thun haben, als die Citronen und die Apfelsinen, bevor sie in Kisten und Körbe verpackt werden, einzeln in Seidenpapier einzuschlagen. Makulatur wird schon gar nicht mehr geachtet: das Gesetz verbietet sogar dem Delikatessenhändler oder Fleischer, Schinken, Schweizerkäse und andere Eßwaren direkt in bedrucktes Papier zu wickeln. Papier scheint nichts zu kosten, ausgenommen etwa im Plural, wie an der Börse.

Es ist schwer, sich eine Vorstellung von einer papierlosen Zeit zu machen, wo man die Sachen noch einfach in die Hand nahm oder ein Gefäß mitbringen oder sich sonst helfen mußte, wenn man etwas zu essen kaufte. Das klassische Altertum ist freilich längst nicht mehr ohne diese Bequemlichkeit gewesen. Die Alten haben zwar noch kein Hadernpapier gehabt, dessen Erfindung den Chinesen zugeschrieben wird. Es ist lange Zeit ein Geheimnis der Araber gewesen und im Abendlande erst durch die Kreuzzüge bekannt geworden. Wohl aber hatte man eine andere Gattung Papier, das echte, das eigentliche Papier, von dem alles Papier nur eine Abart ist, das Papyrus-Papier. In Griechenland nannte man es Bibel (Biblos), im Römischen Reiche: Karte (Charta); es war in Aegypten schon anderthalb Jahrtausende vor Christus üblich und schon vor Herodot, im 6. Jahrhundert vor Christus, ein Handelsartikel. Zur Kaiserzeit gab es auch in Rom eigene Papierfabriken, unter denen die des Fannius obenan stand; man hatte wohl ein ganzes Dutzend verschiedener Papiersorten, auch schon Packpapier und Löschpapier, ja, sogar satiniertes Papier. Der Rohstoff scheint allerdings immerfort aus Aegypten bezogen worden zu sein; nur die Steuer auf den importierten Papyrus wurde im 6. Jahrhundert unter Theodorich dem Großen aufgehoben, wofür Cassiodor dem Ostgotenkönig im Namen der ganzen gebildeten Menschheit in einem Anschreiben dankte. Denn billig war die Charta gerade nicht, ebensowenig wie Pergament; die Alten gingen haushälterisch damit um und benutzten selbst zum Schreiben vielfach bereits beschriebenes Papier, indem sie die alte Schrift ausradierten. Aber im großen und ganzen waren sie doch so gut daran wie wir.

Der einzige Ort, wo heute noch Papier aus der Papyrusstaude hergestellt wird, ist Syrakus; der Custode des dortigen Archäologischen Museums betreibt diese Industrie und verkauft einzelne Blätter an die Fremden. Es schreibt sich sehr schlecht darauf.

Bereits im Altertum gab es also auch Tütchenkrämer. Allerdings wurden vielfach grüne Blätter zum Einwickeln genommen, zum Beispiel Feigenblätter. „Geh, hole mir ein Feigenblatt eingelegte Oliven, ein Feigenblatt Rindstalg“, heißt es in der attischen Komödie, gleichsam als sei das Feigenblatt ein Gefäß. Aber daraus folgt nicht, daß kein Papier dagewesen wäre; noch in unserem papiernen Zeitalter wird Laub nicht selten als Hülle oder Unterlage für Eßwaren benutzt. Die Butterfrau legt Weinblätter über ihre Butter; in Rom entsinne ich mich, die frische Butter jeden Morgen auf einem Salatblatt bekommen zu haben. In Ostindien dienen die Blätter des Pisang, von Musa Paradisiaca allgemein als Tischtuch und als Teller. Die Blätter sind eine Art Vorstufe des Papiers, wie das weiße Taschentuch, das der Italiener gern benutzt, wenn er ein Mäßchen Kirschen mit nach Hause nehmen will. Von Zeit zu Zeit wird immer wieder auf die Anfänge der Kultur zurückgegriffen.

Aber wenn es galt, kleine, leicht verlierbare und leicht verduftende Stoffe zu verschließen, so hielt man sich schon damals an das nützliche, geschmeidige Papier. Man pflegte dann das Blatt kegelförmig zusammenzudrehen und die Spitze umzubiegen, damit nichts herausfalle. Nun, so einen Kegel, wie ihn am schönsten die bekannte Zuckertüte darstellt, drehte man schon im alten Rom und verglich ihn mit einer spitzen Kapuze oder einem Cucullus. Mache, daß du einen guten Verleger bekommst, mein Buch, sagt Martial zu seinem Manuskripte, sonst mußt du in die Küche wandern, um Salzfische zu bedecken, oder eine Kapuze für Weihrauch und Pfeffer werden. Die heutigen Italiener haben das Bild fallen lassen, sie nennen die Papiertüte einfach ein Stück Papier oder ein Cartoccio. Eine Tüte Pfeffer ist un Cartoccio di Pepe. Das Cartoccio entspricht einer Kartusche, in welcher die Pulverladung steckt.

In Frankreich und England wird die Papiertüte mit einem Horn verglichen; sie heißt Cornet. Die französischen Kinder bekommen keine Zuckertüte, sondern un Cornet de Dragées. Hörner sind gleichsam natürliche Tüten, jedes Horn ist ein Füllhorn; die Jäger hatten sonst ihr Pulver in einem Pulverhorn. Aber auch mit dem deutschen Worte „Tüte“ ist weiter nichts als ein Horn gemeint, auf dem man blasen und tuten kann; Tüte oder Düte ist nur eine Nebenform von Tute. Wenn Goethe in „Hermann und Dorothea“ von schön vergoldeten Deuten spricht, so ist das auch nichts anderes; statt Düte sagt er Deute, wie man jetzt Leute für Lüte sagt. Natürlich denkt kein Mensch daran, auf einer Papiertüte zu blasen; sie hat nur die Form eines Blasinstrumentes, wie die Butterglocke die einer Glocke, die Kaffeetrommel die einer Trommel hat, wo auch niemand ans Läuten, niemand ans Trommeln denkt. Die antike Tuba sah genau so aus wie eine Tüte; Kindertrompeten in dieser Form werden noch bei Volksfesten verkauft.

Diese Form hat das Ding noch immer behalten, obgleich es jetzt nicht mehr gedreht, sondern geleimt und fabrikmäßig hergestellt wird; niemals wird man einen Papiersack eine Tüte nennen. Und so mahnt das moderne Füllhorn, das Symbol des Kleinhandels, immer noch an die Zeit, wo Zeus einer Ziege das eine Horn abbrach und es mit Ueberfluß begabte. R. K.     


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 700. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0700.jpg&oldid=- (Version vom 22.2.2023)