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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Die Marienburg.

Von Ernst Wichert. Mit Abbildungen nach Photographien von H. Ventzke in Rathenow.

Um Marienburg von Berlin aus zu erreichen, bedurfte es früher einer mehrtägigen, beschwerlichen Postreise; heute genügt hierzu eine bequeme Schnellzugfahrt von acht Stunden. Das ist keine Entfernung mehr, und doch sind die Fälle wohl noch immer verhältnismäßig selten, in denen ein Reisender, der die Reichshauptstadt besichtigt hat, oder ein Reichshauptstädter selbst sich zu einem „Abstecher“ dorthin (und nach dem nahen Danzig) entschließt. Wer die Ostbahn benutzt, um in Königsberg und weiter in Rußland seinen Geschäften nachzugehen oder in umgekehrter Richtung deutsche Bäder und ferne Länder zu besuchen, begnügt sich meist mit einem Blick durch das eiserne Maschenwerk der langen Nogatbrücke auf Schloß und Städtchen am Ufer; und doch läßt sich dreist behaupten, daß es niemand bereuen würde, da abgestiegen zu sein und einige Stunden seiner noch so kostbaren Zeit geopfert zu haben. Denn was sich ihm bietet, ist etwas Außergewöhnliches und geradezu Unvergleichliches, ein in die Gegenwart zurückgezaubertes Stück Mittelalter von mächtigster Form und nachdenklichstem Inhalt.

Es darf nicht vergessen werden, daß der Deutsche Orden, der sich in blutigen Kämpfen mit den heidnischen Preußen und Litauern das Nordostland erobert hatte, im 14. Jahrhundert und bis zur unglücklichen Schlecht bei Tannenberg 1410 eine Großmacht war und daß in „Haus Marienburg“ (die Bezeichnung Schloß war den Rittern fremd) die Hochmeister des Ordens 145 Jahre lang residierten. Wie sah das Haupthaus dieser höchst eigenartigen ritterlich-mönchischen Körperschaft aus, die gewaltigste Landesfeste, und wie die Wohnung ihres fürstlichen Oberhauptes? Jetzt nach der glücklichsten Restauration haben wir wieder die ganze Herrlichkeit dieses stolzen Baues vor Augen, von dem die Geschichtschreiber erzählen und der bis in den Anfang unseres Jahrhunderts hinein, in seinem wichtigsten Teil sogar noch vor kurzem, nach traurigem Verfall nur als mißachtete Ruine dalag, kaum dem Kenner verständlich.

Zwar völlig deckt sich das heutige Bild der Gesamtanlage nicht mit dem, das sich den deutschen Gästen bot, die zur „Kriegsreise“ anlangten und in der Marienburg festlich bewirtet wurden. Damals führte eine Pfahlbrücke zum festen Brückenthor zwischen zwei Rundtürmen, und wo sich jetzt die Stadt mit ihren freundlichen Häusern, soweit sie die furchtbare Feuersbrunst nicht jüngst zerstörte, um das Schloß herumzieht, starrten Festungswerke mit doppelten oder gar dreifachen Mauern und einem Kranz von Türmen um die weit nach links (Nordost) ausgebaute Vorburg, die mit ihren vielen Werkstätten zur Bereitung von Kriegsmaterial, mit ihren Speichern, Stallungen und Beamtenwohnungen selbst einer Stadt glich. Aber die Hauptbaulichkeiten, das „obere“ oder „rechte“ Haus (Hochschloß) und das „mittlere“ Haus mit der „Hochmeisterwohnung“, unterschieden sich sicher nicht wesentlich in ihrer äußeren Gestalt, jetzt auch nicht mehr in der inneren Einrichtung. Das Schloß Marienburg von heut’ ist, nach Möglichkeit getreu, das Ordenshaupthaus, in welchem Winrich von Kniprode glänzend Hof hielt und Ulrich von Jungingen den Kampf gegen Polen rüstete.

  Brückenthor.   Herren-Dansk.       Stadtkirche.
Die Marienburg von Südwest.
Nach einer photographischen Aufnahme von H. Ventzke in Rathenow.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0671.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2023)