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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Hans Jochen auch. Zum erstenmal stehen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber; nicht eben freundlich, wie man sich denken kann, doch wird der Vetter im Verlauf der Verhandlung merklich höflicher und sozusagen verwandtschaftlicher.

Leider kommt bei dem Termin keine Entscheidung heraus. Das Gericht wünscht ein paar Leute zu vernehmen, welche von beiden Teilen als Kenner der Verhältnisse vorgeschlagen werden. Ein Vergleich, den der Vetter anbietet, wird von Sabine auf Rat ihres Anwaltes abgelehnt.

Hinterher ist sie schwankend geworden, ob sie nicht doch besser gethan hätte, die Vorschläge des Vetters anzuhören. Und sie kommt jetzt wieder darauf zurück, wo sie im Wartezimmer neben dem Anwalt sitzt, der ihr höflich das Geleit gegeben.

„Ich versichere, gnädiges Fräulein, die Sache steht nicht schlecht für Sie; ich habe den Eindruck aus dem Gange der Verhandlungen gewonnen …“

„Aber wieso denn? Diese Herren Richter, so eiskalt und unnahbar – ich fand, daß sie nichts, rein gar nichts verrieten.“

„Doch! Sie haben wohl nicht scharf beobachtet, als der Vorschlag eines Vergleichs von seiten Ihres Gegners fiel. Es gab da bei zweien einen Augenblick der Besorgnis und nachher, als Sie ablehnten, einen der Genugthuung. Ich kenne die Gesichter. Aber auch in der Fragestellung …“

Er stockte, drehte den Kopf überseite und Sabine von Rassow blickte auf und neigte nachlässig den ihren: ein großer schlanker Herr im Pelz, der einen Augenblick in der Thür gestanden und jetzt umkehrte, hatte ihr seine Verbeugung gemacht; eine elegante Erscheinung, den Jahren nach vielleicht Ende der Dreißig, vielleicht Anfang der Vierzig; der Typus des ehemaligen Reiteroffiziers, und zwar eines, der das Leben genossen hat. Weshalb Hans Jochen von Rassow umkehrte? Möglich, daß ihm doch das Zusammensein mit der Gegenpartei in dem mäßig großen, wenig gefüllten Raume unbehaglich vorkam. Was für häßliche, begehrliche Augen er hatte!

Der Anwalt bemühte sich weiter, seine Klientin zu beruhigen, allein der Erfolg war ein ungenügender. Schon die Thatsache, daß die Richter die Ansprüche des Rassowers ernstlich in Betracht zogen, genügte, um sie pessimistisch zu stimmen. Welch eine Gerechtigkeit, die solch einem Raubrittertum Vorschub leistet! … Endlich erschien der Beamte, der zum Einsteigen mahnte.

Der Zug stand auf dem Geleise, mitten in wahnsinnigem Schneegestöber. Sabine stieg in ihr Frauencoupé, der Anwalt mußte ihrem Drängen nachgeben und sich verabschieden. Der Raubjunker von Vetter hatte längst im Nebencoupé Platz genommen. Ein gedehnter Pfiff, und die Lokomotive ächzte in die flockenwirbelnde Finsternis hinaus.

Heiligabend! Ein paar Stunden Eisenbahnfahrt, und dann noch eine Stunde Schlittenfahrt. Sabine wird ja noch zur Leutebescherung zurecht kommen, die man ihrer Weisung gemäß diesmal auf eine spätere Stunde verschoben hat. Sie sitzt allein im Coupé, lehnt sich in die Kissen zurück und grübelt. Die Erregung zittert noch in ihr nach, dieses unruhvolle Ob? – ob nicht? hält ihre Gedanken im Banne.

Aber endlich wird sie müde, abgespannt, schließt die Augen. Ein paarmal hört sie nebenan den Vetter Hans Jochen husten. Andere Bilder kommen, beschäftigen sie reizvoll und quälend – ja, ja, sie weiß es, weshalb ihr so viel, so sehr viel daran liegt, diesen Prozeß zu gewinnen …

Es ist so heiß im Coupé, und sie schläft ein.

Das rollt und rollt, wer weiß wie lange. Ab und zu läutet es vorn an der Lokomotive.

Plötzlich schreckt sie auf; der Zug steht, draußen giebt es ein Rufen, ein lebhaftes Durcheinanderreden. Was ist das? Sie haucht an das Fenster, sieht Nacht und Schneewirbeln. Ein Beamter kommt, und ihre Coupéthür wird geöffnet.

„Was ist?“ fragt sie.

„Wir stecken im Schnee fest, die Herrschaften müssen sich gedulden.“

„Mein Gott – wie lange denn?“

„Ein paar Stunden, genau läßt sich’s nicht sagen; wir müssen Leute besorgen zum Schneeschippen.“

„Das ist ja schrecklich! Können Sie nicht wenigstens bis zur letzten Station zurückfahren?“

„Das schaffen wir nicht, die Steigung ist zu groß hier und die Schienen sind zu glatt.“

„Ja, was thun wir? Sollen wir die ganze Zeit im Coupé zubringen?“

„Wie die Dame wünscht. Sonst ist hier ein kleines Gehöft, ein Bahnaufseher wohnt hier; und zehn Minuten weiter liegt ein Dorf.“

„Wo sind denn die anderen Passagiere! Sind sie im Zug geblieben?“

„Wir haben bloß sechs Leute im Zug, Heiligabend ist der Zug immer leer. Sie sind alle gegangen.“

Sabine schwankte. Endlich kam es ihr zu unheimlich vor, mutterseelenallein in diesem totliegenden Ungetüm von Zug zu bleiben. „Wollen Sie mich zu dem Hause hinüber begleiten?“ fragte sie.

Der Mann bejaht, und sie nimmt ihren Schirm und steigt aus. Der Zug liegt vor einem Hohlweg im ebenen Felde, der Hohlweg ist mit Schnee angefüllt und der eisige Wind weht mehr und immer mehr hinzu. Der Schirm schwankt in ihrer Hand, daß sie ihn kaum zu regieren vermag; und sie klopft ganze Schneefladen von dem Pelzmantel, als sie in der Hausthür steht, die gleich in die Küche führt und deren Oeffnen eine Klingel in Bewegung gesetzt hat. Eine Frau öffnet die Stubenthür, eine Küchenlampe in der Hand; sie ist eine hagere, freundliche Person in mittleren Jahren. „Bitte nur einzutreten,“ sagt sie. „Das ist ja eine schlechte Fahrt zu Heiligabend!“

„Wo sind wir eigentlich?“ fragt Sabine, ihr folgend.

„In Menow, gnädiges Fräulein – gehen gnädiges Fräulein nur durch, dort ist die gute Stube …“

In dem Zimmer, das sie durchschreiten, giebt es Betten; um einen Tisch, auf dem sich ein mageres, mit ein paar Aepfeln, Nüssen und etwas Zuckerzeug behangenes Weihnachtsbäumchen erhebt, sitzen und stehen vier Kinder mit Spielzeugkleinigkeiten in den Händen und machen neugierig befangene Gesichter. „Ist niemand sonst hier?“ fragt das Fräulein.

Die Frau hält schon die Klinke in der Hand. „Vier waren hier, die sind aber ins Dorf, ins Wirtshaus gegangen. Nur ein Herr ist drinnen …“

In der guten Stube steht eine Lampe auf dem Tische, und von einem Lehnstuhl wendet sich ein Kopf nach der Thür herum – Sabine hat es gefürchtet: Vetter Hans Jochen.

Sie kann nicht wohl zurück, er ist aufgesprungen: „Angenehmer Zufall, gnädigste Cousine, wie?“ – sie hat auf einmal alle ihre Geistesgegenwart beisammen. Der Humor der Situation geht ihr auf. Sie wird dies Beisammensein durchfechten. Wer weiß …?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0665.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2023)