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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

das sagen, die Aerzte seltener in der Krankheitserkenntnis irren und demgemäß auch mehr Heilerfolge haben.

In unserem „Jahrhundert der Erfindungen“ aber ist nach und nach eine ganze Reihe Hilfsmittel zur Verschärfung der Sinne beim Diagnosticieren erfunden worden. Und mancher innere Krankheitsvorgang, der früher nur unvollkommen oder gar nicht diagnosticiert werden konnte, wird mit Hilfe der überraschend vervollkommneten Ausnutzung des Gehörs – durch Behorchen und Beklopfen der Körperoberfläche – und durch chemische und mikroskopische Untersuchung sicher erkannt, und auch das Auge drang weiter ins Innere der Körperhöhlen vor – wir erinnern nur an den Augen- und Kehlkopfspiegel, an die Beleuchtung des Magen- und Blaseninnern mittels Spiegeln und elektrischen Lichts etc. Vieles und Wichtiges jedoch blieb trotzdem dunkel und unsicher, das jenen alten Laienwunsch auch bei den Aerzten wach erhalten mußte. Da verbreitete sich gegen Ende des Jahres 1895 die staunenswerte Kunde, daß der Würzburger Professor W. K. Röntgen eine wunderbare Strahlen- oder Lichtart entdeckt habe, die selbst dichte Stoffe, Holz, Pappe etc. und auch Rumpf und Glieder, sogar dünne Knochen des menschlichen Körpers durchdringe wie gewöhnliches Licht das Glas, so daß mit ihrer Hilfe das in die Tiefe gebettete Knochengerüst, in Weichteilen, Körperhöhlen und Knochen sitzende Fremdkörper, wie Kugeln, Nadeln etc., im photographischen Bilde nach Größe, Lage und Sitz festgehalten und erkannt werden könnten. Die Nachricht von dieser Entdeckung durchlief sofort die ganze Welt (vgl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1896, S. 83) und, was erfreulicher und wichtiger war, sie hielt auch den alsbald vorgenommenen Nachprüfungen der Gelehrten aller Nationen stand, war kein Märchen, sondern blieb eine unumstößliche Thatsache.[1]* Und ein mächtiges, in seiner Tragweite nicht übersehbares Hilfsmittel war durch das neue Licht der Krankheitserkenntnis geschenkt, aber nicht bloß das: es war auch, was nicht von allen diagnostischen Erfindungen unseres Jahrhunderts gesagt werden kann, dadurch der Krankheitsheilung vielfach ein sicherer Weg gewiesen. Die ersehnten Thürchen waren mehr als ersetzt, der Körper ist nunmehr für den Arzt in mancher Beziehung wirklich durchsichtig wie Glas!

Diese an sich unsichtbaren Strahlen sind in dem Licht enthalten, welches der elektrische Funken beim Ueberspringen von einem Pol zum andern in einer luftleeren Glasröhre erzeugt. Sie besitzen ganz besondere von denen des gewöhnlichen Lichtes abweichende Eigenschaften, dessen chemische Wirkung auf photographische Platten sie jedoch teilen. Vor allem haben sie, wie schon bemerkt, die Kraft, die meisten, auch die festen Stoffe zu durchdringen, freilich die weniger dichten und dicken besser als die entgegengesetzten, so daß die dichteren Körper einen im Verhältnis stärkeren Schatten werfen, also ein dunkleres Abbild bei der photographischen Aufnahme geben als die weniger dichten. Auf solchen Photographien erscheinen Licht und Schatten in schroffem Gegensatz, so z. B. die fleischigen Teile eines Armes einfach hell, die Knochen dunkel, metallische Körper innerhalb beider aber noch dunkler. Sind die Röntgenstrahlen von großer Stärke oder währt deren Einwirkung zu lange, so sieht man auf dem photographischen Bilde die Umrisse der Fleischteile, namentlich bei dünneren Lagen, z. B. am Kopfe und an der Hand, gar nicht mehr, selbst die der dünnen Knochen undeutlich und nur die dicksten in schärferer Zeichnung. Es bedarf daher zur Herstellung guter Röntgenbilder noch größerer Uebung in Bemessung der richtigen Stärke und Dauer der Strahlenwirkung auf die Platte als beim gewöhnlichen Photographieren. Durch fortgesetzte Verbesserung der Apparate ist übrigens die in der ersten Zeit nach der Entdeckung nötige sehr lange Expositionsdauer derart abgekürzt worden, daß sie jetzt von der beim gewöhnlichen Photographieren erforderlichen nicht mehr viel abweicht. Weiter pflanzen sich die Röntgenstrahlen immer nur in gerader Richtung fort und lassen sich durch nichts, weder durch starke Magnete, noch durch Sammellinsen etc., ablenken. Deshalb sind auch die letzteren beim Photographieren mittels jener nicht nötig. Zu ihrer Eigenart gehört weiter, daß sie fluorescierende Wirkung haben, d. h. im Dunkeln scheingebende Flächen zum Aufleuchten bringen, und selbst durch keine, wie immer auch beschaffene Oberflächengestaltung eines Körpers, wie das z. B. bei gewöhnlichem Lichte seitens polierter Metallflächen u. dgl. der Fall ist, zurückgeworfen (reflektiert) werden.

Der Wert dieser neuentdeckten Strahlenart und der damit herzustellenden Photographien gerade für die ärztliche Kunst wurde allseitig zwar sofort betont, merkwürdigerweise jedoch die Tragweite der Entdeckung für diese eher unter- als überschätzt, selbst von berühmten Aerzten und Chirurgen. Bald nämlich hatte sich herausgestellt, daß man oft bei den auf Grund der photographischen Bilder unternommenen Operationen zur Entfernung der durch Röntgenstrahlen entdeckten Fremdkörper den wahren Sitz derselben verfehlte, daß man durch das Verfahren also irregeführt ward. Dies war geschehen, weil man bei den Aufnahmen es versäumt hatte, nicht bloß gerade von vorn oder hinten her, sondern auch zugleich horizontal (senkrecht zu dieser Richtung), also von einer der beiden Seiten her, Bilder aufzunehmen, wodurch allein man doch erst instand gesetzt wird, den Schnittpunkt der beiden Aufnahmerichtungen und damit die wirkliche Lage des gesehenen Fremdkörpers, nicht nur nach dem Orte, sondern auch nach der Tiefe zu bestimmen und zu finden. Erst nach Beseitigung dieses Uebelstandes wurde die Verwendung der Strahlen allgemeiner, so daß heutzutage kein auf der Höhe der Zeit stehendes, namentlich kein chirurgisches Krankenhaus eines „Röntgenapparates“ entbehren kann. Für die tägliche ärztliche Praxis aber besorgen in vielen Städten bereits Specialisten und eigene „Röntgeninstitute“ die „Röntgenphotographien“, nicht nur in Deutschland, dem Geburtslande der Entdeckung, sondern in allen Kulturländern der Erde. Darin gleicht die neue Entdeckung Röntgens der älteren Erfindung des Augenspiegels durch Helmholtz, der man sie in der That auch als eine Art Augenspiegel für das Innere der Festteile des Gesamtkörpers zur Seite stellen kann. Man hat in neuester Zeit sogar mit Hilfe des bei dem Verfahren gebräuchlichen Leuchtschirmes gelernt, ohne weiteres, d. h. ohne vorausgegangene Anfertigung einer Photographie, Gegenstände aus dem Körper zu entfernen. Ebenso beobachtet man die Bewegungen des Herzens, der Lunge, des Zwerchfells etc. direkt.

Betrachten wir nunmehr die Verwertung der Entdeckung Röntgens in der inneren Medizin, so muß zum voraus gesagt werden, daß sie innerhalb dieser im großen und ganzen bis jetzt den seitherigen diagnostischen Verfahren dennoch kaum ernste Konkurrenz bereitet.

Bei tuberkulöser Erkrankung der Lunge läßt dieselbe im Anfangsstadium der Krankheit im Stich, was um so mehr zu bedauern ist, als gerade in diesem Stadium erhöhte Aussicht auf die Möglichkeit einer Heilung existiert; erst stärkere und ausgedehntere Verdichtungen in der Lungenmasse oder Höhlen sind sicher nachweisbar, freilich selbst später als mittels der Untersuchung mit dem Ohr. Dasselbe gilt für Lungenentzündung. Manche Geschwülste dagegen, sowie nach abgelaufenen Lungenentzündungen zurückgebliebene Verdichtungen, Verkalkungen und Steinbildungen in der Lunge, dann Fremdkörper in Lunge und Luftröhre, voran metallische, lassen sich, namentlich bei mageren und jüngeren Personen, zum Teil früher und bestimmter nachweisen. Gewonnen wird in der Regel dadurch aber nicht viel, desgleichen nicht bei der mit dem neuen Hilfsmittel bewirkten Feststellung vorhandener Lungenerweiterung (Emphysem) resp. des veränderten Zwerchfellstandes in manchen Fällen von Atemnot (Asthma) etc., kurz, für die Erkenntnis der eigentlichen Lungenerkrankungen hat vorerst das Röntgenverfahren, das hier außerdem besondere Uebung verlangt, nur den Wert einer Bestätigung der mit den alten Methoden erlangten Resultate, die immerhin in einzelnen Fällen erwünscht sein kann.

Dasselbe gilt für die Erkrankungen des Brustfells, bei Ergüssen in den Brustfellraum und Geschwülsten innerhalb desselben: dagegen sind die häufigen Verwachsungen der Lunge mit Brustwand und Zwerchfell infolge des Wegfalls der Beweglichkeit beider gegeneinander leichter durch das Röntgenverfahren zu erkennen. Der allgemeinen Verwendung aber steht auch hier, wie in vielen Fällen, die Umständlichkeit, Schwierigkeit und Kostspieligkeit des Verfahrens, der hohe Preis und die geringe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 662. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0662.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2023)
  1. Die neuentdeckten Strahlen, von denen im folgenden die Rede ist, wurden nach ihrem Entdecker „Röntgenstrahlen“ oder auch „X-Strahlen“ benannt. Wir behalten die erste, in den Sprachgebrauch übergegangene Bezeichnung bei. Sie ist mundgerechter als „Röntgens Strahlen“, „Röntgensche Strahlen“ u. ä.