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und verbreitete allenthalben, wo es sich befand, Behagen, Glück und Freude. So entschloß sich der Gründer ihres Glücks, nachdem seine Töchter sich sämtlich verheiratet hatten, ihr die Hand zum dauernden Bunde zu reichen. Als Goethe sie nun traf, war sie nach seinen eigenen Worten „das vollendete Bild weiblicher Anmut, eine tief poetische Seele, die auf den Flügeln der Grazie leicht durchs Leben schwebte.“ Kein Wunder, wenn er sich in inniger Neigung zu Marianne hingezogen fühlte, ein Wunder aber für ihn, daß die bezaubernde Hülle dieses Wesens ein dem seinen fast ebenbürtiges Talent für lyrische Dichtung barg!

Nach einem kurzen Ausflug nach Heidelberg zu Sulpice Boisserée folgte Goethe der Einladung Willemers und verbrachte als dessen Gast mehrere Tage auf der Gerbermühle. Es waren überaus genußreiche Stunden, welche der Dichter damals im Umgange mit seinen Gastfreunden verlebte.

In lauen Nächten hielt man sich auf der Veranda des Hauses auf; bei Vollmondschein bot sich hier ein herrlicher Blick über das weite Thal des Flusses bis hin zum Taunus, an dessen Feldberg einst der Dichter, fern in Italien, sich beim Anblick des Sabinergebirges erinnert fühlte. Goethe las von seinen neuentstandenen Gedichten vor, Marianne sang mit seelenvoller Stimme manches seiner Lieder. In jenem Jahre beschäftigte sich Goethe mit dem Plan, die reizvolle Kunstweise des Persers Hafis, dessen Poesien er kurz vorher kennengelernt, seinem eigenen Talent dienstbar zu machen. Der „West-östliche Diwan“ war im Entstehen und Marianne wurde das Urbild der darin von „Hatem“ besungenen „Suleika“.

Die Mehrzahl dieser Lieder entstand im folgenden Jahre während der herrlichen Herbstwochen, die Goethe wiederum als Gast bei Willemers in der Gerbermühle und in deren Frankfurter Stadtwohnung, dann mit Mariannen und ihrem Gatten in Heidelberg verlebte. Goethes Gefühl für die heitere tiefempfindende Sängerin seiner Lieder, das hafisische Behagen des geselligen Lebens im Willemerschen Hause entsprach ganz der Seelenstimmung seines „Hatem“.

Die Spaziergänge, welche der Dichter mit Marianne zwischen den romantischen Ueberresten des Heidelberger Schlosses und in den daranstoßenden Parkanlagen machte, weckten in ihm die schönsten der Suleikalieder. Auf einem solchen Gange war es, daß Goethe das Blatt eines damals noch ziemlich unbekannten Baumes, der Gingo biloba, pflückte und dasselbe – zwei Hälften und doch ein Ganzes bildend – als symbolisches Unterpfand seiner Gefühle der geliebten Freundin gab. Darauf bezieht sich das Gedicht „Gingo biloba“:

„Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?“

Nicht alle Lieder im Buche „Suleika“ rühren aber von Goethe her; mehrere der schönsten sind von Marianne v. Willemer verfaßt, welche mit frohem Zugehen auf das persische Dichtermärchen ihr eigenes Empfinden in Verse zu kleiden wußte, die völlig eines Goethe würdig waren. Das vielbewunderte zarte Sehnsuchtsgedicht „Ach, um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide“ ist dafür ein Vollbeweis.

Der Wechselgesang solcher Liebeslieder währte noch eine Zeit lang nach den Heidelberger Tagen fort. Hier am Ufer des Neckar sahen sich die beiden zum letztenmal am 26. September 1815. Goethe kam auch nicht wieder dazu, die Vaterstadt zu besuchen. Dafür trat ein brieflicher Verkehr ein, der eifrig gepflogen wurde. Freilich fanden auch in diesem die Töne der Leidenschaft allmählich ihren Ausklang und gingen in die sanfteren Accorde der Freundschaft über. Versicherungen unwandelbarer Treue wiederholen sich bis ans Ende.

Ein Herzensbedürfnis war es für Marianne, den Dichter mit Dienstleistungen zu erfreuen, die sich bis auf Küche und Garten erstreckten. So versorgt sie ihn, der in Weimar die Gartenfrüchte seiner Frankfurter Heimat ungern vermißt, jedes Jahr zur gewissen Zeit mit Artischoken, einer Lieblingsfrucht Goethes, und vergißt nicht, ein Dutzend Flaschen kostbaren Rheinweines beizufügen, die in den Briefen regelmäßig als „Die zwölf Apostel“ figurieren. Noch im Jahre 1831 berichtet sie nach Weimar, daß sie von Stift Neuburg aus die Erinnerungsplätze auf der Heidelberger Schloßhöhe aufgesucht und sich ein Blatt von der Gingo biloba gepflückt habe. Etwas später traf von Weimar aus ein wohlverschlossenes Paket auf der Gerbermühle ein, das die ernste Aufschrift trug: „Zur unbestimmten Stunde zu öffnen.“ Mit dieser Stunde war Goethes Tod gemeint, der nicht lange nach dieser Zeit eintrat. Das Paket, welches nun geöffnet wurde, enthielt sämtliche Briefe Mariannens an Goethe. Des Verklärten Andenken aber lebte fort in den Herzen Mariannens und ihres Gatten, wie nicht minder in der Familie des Rates Schlosser auf Stift Neuburg bei Heidelberg.

Johann Friedrich Schlosser entstammte einem von lange her in Frankfurt angesehenen Geschlechte. Sein Vater Hieronymus Schlosser, Jurist im reichsstädtischen Dienste, befaßte sich neben seinem Berufe mit schöner Litteratur und gab ein Bändchen lateinischer Gedichte heraus, worunter eines an Wolfgang Goethe, seinen Altersgenossen, gerichtet war. Die Sammlung enthält auch die deutsche Antwort des Besungenen. Der Bruder des Vaters war jener bekannte Georg Schlosser, der sich mit Goethes einziger Schwester verheiratete. Unser Schlosser, der „Rat“, hatte in Halle, Jena, wo er Schiller kennenlernte, und Göttingen Jura studiert und nebenbei historische und ästhetische Studien betrieben. In seine Vaterstadt zurückgekehrt, wurde er unter die Advokaten aufgenommen, dann Stadtgerichtsrat, 1812 Oberstudienrat. Zwischen ihm und Goethe entspann sich ein reger brieflicher Verkehr. Daß er nach dem Tode von Goethes Mutter deren Hinterlassenschaft ordnen half, ist bereits oben erwähnt. Er blieb zeitlebens Goethes Vertrauensmann in Frankfurter Angelegenheiten.

Unangenehme Erfahrungen verleideten Friedrich Schlosser sein reichsstädtisches Amt; von da ab widmete er sich rein wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten, wozu ihm sein Vermögen reichliche Mittel bot. Im Winter lebte er in der Stadt, während der schönen Jahreszeit wohnte er seit 1825 in dem von ihm gekauften, herrlich am rechten Neckarufer bei Heidelberg gelegenen Stift Neuburg, das er in einen reizvollen Landsitz umschuf und mit Schätzen der Kunst und Wissenschaft füllte. Hier verlebte er die schönsten Tage seines Daseins, mit seinen Lieblingsstudien beschäftigt und sich wie andere durch Wohlthun erfreuend.

Friedrich Schlosser zählte, wie einer seiner Biographen sagt, zu den lautersten, edelsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Verehrt auch von denen, die weder seine strengreligiösen noch politischen Anschauungen teilten, bewahrte er sich eine Kindlichkeit des Gemütes und eine beim reichsten Wissen und Verdienst so aufrichtige Bescheidenheit, daß er ungesucht und unwillkürlich alle fesselte, die er in seine Umgebung zog. Eine ihn harmonisch ergänzende Natur war seine im Jahre 1809 ihm angetraute Frau Sophie, geb. Du Fay. Neben einem ruhigen, klaren Blick und der Fähigkeit, eine zuweilen kühle, ja scharfe Kritik zu üben, besaß sie die volle Wärme und schlichte Einfalt eines echten Frauengemütes, aus welch letzterer Eigenschaft sich die innige Freundschaft erklärt, welche zwischen ihr und Frau Marianne von Willemer – lange noch nach dem Tode ihrer Männer – bestand. Für Goethe bewahrte sie, trotz der Verschiedenheit ihrer Weltanschauung, eine begeisterte Verehrung. Wenn jemand es wagen wollte, sich abfällig über ihn zu äußern, so pflegte sie das Gespräch abzuschneiden mit den Worten: „Sie haben Goethe nicht gekannt“.

Gleiche Verehrung widmete dem Dichter bekanntlich der Gatte, der demselben bei Abfassung des Buchs „Aus meinem Leben“ dankenswerte Dienste leistete, indem er ihn mit reichhaltigen Notizen über die gemeinsame Vaterstadt versah. Schon zu Lebzeiten Goethes sammelte er alles von Schriften, Bildern und Münzen, die denselben betrafen, eine Aufgabe, in welcher ihn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0626.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2022)