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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

kommen die fröhlichen Berggeißen, ihrer über hundert, schwarze, weiße und gefleckte, viele mit zwei, viele mit vier Hörnern, die meisten mit lustigen Bärten. Schon gesättigt, naschen sie immer noch, sie steigen auf jeden Felsblock, der am Wege liegt, und halten mit schalkhaften Augen Ausschau, und mit den Mutterziegen spielen die Zicklein.

Mit einem Strauß Löwenzahn und Disteln pflegt Cilgia Abend um Abend die Tiere zu empfangen. Sie hält ihn hoch, und wohl ein Dutzend umringen sie und haschen nach dem Büschel, den sie ihnen mutwillig vor den Mäulern wegzieht.

Gioja und Gloria, die Pfarrersziegen, drängen sich am nächsten an sie, sie haben gute Freundschaft mit ihr geschlossen, sie erwischen den Strauß.

Mit der Herde kommt Pia, die kleine braune Hirtin. Sie trägt einen durchlöcherten Strohhut, das Mieder ist über der jungen Brust unordentlich geknüpft, das rote kurze Röckchen ausgefranst, an den Füßen klappern die klobigen Holzböden, sie trägt einen leichten Bergstock und auf dem Rücken den mit Murmeltierfell überzogenen Speisesack.

Häßlich ist die Pia Colani nicht, aber eine wilde, böse Hummel. Gerade das reizt Cilgia, immer wieder mit ihr anzubändeln.

„Hast du Bericht von deinem Bruder Orland?“

„Gewiß habe ich,“ erwidert die Kleine stolz und mit funkelnden Augen. „Er schrieb aus Basel – er fährt auf einem Rheinfloß – ich weiß nicht, was das ist – nach Holland.“

„Und wie verträgst du dich jetzt mit deinem neuen Hausgenossen, dem Schmied?“

Pia macht eine komische Gebärde des Abscheus.

Sie ist die erbitterte Feindin Paltrams und hat sich gegen seinen Einzug ins väterliche Haus wie eine Wütende gesperrt, obgleich der Pfarrer dafür gesorgt hat, daß sie und ihre Großmutter darin wohnen bleiben können.

„Fräulein,“ zischt die Kleine mit ihrem Mund voll schöner Zähne, „eines Tages beiße ich Euch schon – was ich in Samaden gesagt habe, gilt! Ihr seid auch schuld, daß er da ist.“

Und sie schleudert wilde Blicke gegen Cilgia.

„Sei doch ein bißchen lieb, Pia!“ schmeichelt Cilgia mit herablassender Zutraulichkeit.

„Nein,“ schreit das Waldteufelchen, „der geht ja jede Nacht zu seinem höllischen Vater. Sobald die Dämmerung eingebrochen ist, hängt er das Gewehr um, und erst nach Mitternacht, oft erst gegen Morgen kehrt er zurück.“

Die Herde Pias drängt vorwärts, das Gewitter naht, das Gespräch findet ein rasches Ende.

Hinter Cilgia laufen die Pfarrersziegen gegen das Dorf und verwundern sich, daß ihre Freundin so karg an Wort und Scherzen ist.

Paltram zur Nacht heimlich in den Bergen? – Es mußte schon so sein, denn er schenkte in die Pfarrküche dann und wann Schneehühner oder Alpenhasen.

Und die schoß er nicht am hellen Tag, sondern eher im Mondschein, denn man sah nie, daß er seine Arbeit versäumte.

Dieses dunkle Wesen gefiel ihr nicht.

Als sie den Ziegen den Stall öffnete, fielen die ersten Tropfen und in den Bergen hallte der Donner.

Früh sank die Nacht herein. In der Stube erwartete sie der Pfarrer, der schon eine Weile von St. Moritz zurückgekehrt war, und reichte ihr, als sie eintrat, beide Hände.

„Viele Grüße von drüben, und darüber, daß ich dich nicht mitgebracht habe, regnete es Vorwürfe. Von Samaden her sind alle voll guten Sinns für dich! Und der alte Gruber aus dem Suldenthal ist bei Melcher eingerückt.“

Cilgia errötete.

„Er ist ein gewaltiger Mann an Leib und Seele,“ fuhr der Pfarrer fort. „Als er wünschte, dich kennenzulernen, lud ich ihn auf morgen Mittag zu uns als Gast ein. Ich denke – ich denke – –“

Mit fröhlichen Augen blinzelte der Pfarrer gegen Cilgia.

„Ihr führt mich jetzt schön in die Klemme,“ erwiderte sie, halb im Scherz, halb im Ernst. Der Pfarrer wollte eben etwas Scherzhaftes entgegnen, da fiel ein Blitz und Donnerschlag, daß es bis in den Ofenwinkel leuchtete und die Fenster zitterten.

Mächtig und prächtig zog das Gewitter durch die Nacht, und als sie aus dem Fenster blickten, sahen sie an der Bergwand jenseit des Berninabaches eine züngelnde Flamme. Der Blitz hatte in eine alte Arve geschlagen, sie brannte wie eine Fackel und beleuchtete die schroffen Felsen mit blutigem Schein.

„Ein Camogaskerfeuer,“ sagte der Pfarrer.

„Camogaskerfeuer? – Wißt Ihr, daß man Markus Paltram einen Camogasker nennt. Erzählt mir doch, was ist ein Camogasker?“

„Wegen Markus Paltram, Cilgia, möchte ich dir die Sage nicht vorenthalten.“

Er prüfte sie mit einem Seitenblick, räusperte sich, und während draußen das Nachtgewitter wütete, horchte Cilgia mit gespannten Sinnen der Erzählung.

„Es giebt,“ hob der Pfarrer an, „mehrere untereinander ziemlich verschiedene Fassungen der Sage, ich berichte sie dir in derjenigen, die aus dem Burgherrn von Guardaval keinen unbegreiflichen Wüterich macht, sondern sein Wesen zur Not erklärt. Danach hatte das Volk im Anfang großes Vertrauen auf den Ritter gesetzt, und leutselig lud er es zu den Festen auf sein Schloß, wo fahrende Sänger die Harfen schlugen. Eines Tages aber erfuhr er, daß er nicht der Sohn des Ritters sei, den er als Vater verehrte und der im Morgenland als Streiter für das heilige Grab gefallen war, sondern der Abkömmling eines gemeinen Mannes, des Kastellans. Den Kastellan ließ der junge Ritter über die Felsen werfen und die Gebeine der Mutter aus dem Grab. Sein Sinn wandte sich. Er haßte die Menschen: er ging oder ritt einsam durchs Gebirg, und in gottlosen Zornausbrüchen verlangte er die härtesten Frohnden von den Männern, in rauschender Leidenschaft die Opfer der Töchter des Landes, mit seinem Blick umspann er sie wie mit Zauber und vergiftete ihr Wesen, daß sie Vater, Mutter und Ehre vergaßen und sich selbst an den Burgweg setzten, damit er sie sehen möge.“

Da unterbrach plötzlich ein seltsamer Laut die Aufmerksamkeit, die der Pfarrer seinen eigenen Worten schenkte.

Zähneknirschend und blaß vor Zorn saß ihm Cilgia gegenüber.

„Gefällt dir die Sage nicht?“

„Nein, aber ich möchte sie jetzt doch ganz hören. Erzählt nur weiter, Onkel,“ versetzte sie mit blitzenden Augen.

„Es ist nicht mehr viel,“ erwiderte er. „Nachdem der Unhold eine Weile so gewütet und Elend über die Bevölkerung gebracht hatte, erschlug ihn ein Vater auf seinem Schloß. Seither ist der Ritter der gespenstische Wildjäger, der vornehmlich im Camogaskerthal haust, aber von Zeit zu Zeit über die ganze Bernina zieht. Mit Unglücksfällen auf den Alpen kündigt er sich an, mit Sturm fährt er daher, auf einem Pferdegeripp reitet er in Blitz und Donner, Tiergerippe sausen und rascheln vor ihm. Einmal im Jahr, zu Simon und Judä, aber mag’s geschehen, daß er sich wie ein Lebendiger aus brütender Sonne, aus wispernder Luft und steigendem Erdduft auferbaut und als ein höllisches Wunder vor Hirtinnen und Wildheuerinnen erscheint. Zuerst sehen sie nur zwei brennende Augen – sprechen sie nun nicht rasch ein Stoßgebet, so sind sie verloren. Seine Söhne sind’s, die man Camogasker nennt.“

Gepreßt und blaß fragte Cilgia: „Und was haltet Ihr, Onkel, von der Sage?“

„Ich habe Studien darüber gemacht, doch die Quellen sind zu spärlich, als daß sich über ihren geschichtlichen Wert etwas sagen ließe. Sicher ist nur, daß manche Zusätze erst später auftauchten, so der Glaube an die Camogaskersöhne. Er ging erst zur Zeit der Hexenverfolgungen, als Frauen im Wahnsinn der Folterqual bekannten, daß ihnen der Wildjäger erschienen sei, ins Volk über.“

In Cilgias Zügen stand die Ungeduld. „Was Ihr sagt, Onkel, ist wohl merkwürdig, aber ich meine nicht, welchen Wert die Sage für die Engadiner Geschichte hat, sondern ob Ihr einen tiefen Sinn darin findet!“ Der letzte Teil ihrer Rede klang fast herausfordernd, und etwas wie zürnende Kampflust stand in ihren Augen.

„Kind, Kind, was regst du dich wegen dieser alten Geschichte auf!“ Und der Pfarrer schüttelte den Kopf.

Cilgia aber erhob sich im Eifer der Jugend: „Spürt Ihr denn nicht, Onkel, was für eine blutige Demütigung diese Sage für uns Frauen ist. Ich würde sie anders erdichten!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0619.jpg&oldid=- (Version vom 24.6.2022)