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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Mit wem spricht sie denn? dachte sie. Eine Weile verstand sie nichts. Das Reden ward beinah zum Flüstern; dann zu einer Art von gesprochenem Gesang; aber undeutlich, wie aus dem Traum. Spricht sie denn mit jemand? – Clotilde schüttelte den Kopf. Ach nein, dachte sie, dann kläng’s nicht so. Mit wem sollt’ sie auch – – Nein, das ist wieder eines ihrer Selbstgespräche! Das hat sie von mir! – Wirkt denn heut der Mond auf sie? Oder – ist ihr auch das Herz so traurig? – Könnt’ ich nur verstehn!

Sie stand und regte sich nicht. In der Laube knarrte etwas; das Kind schien auf der Bank ausgestreckt zu liegen, sich unruhig nach rechts und nach links zu drehn; und es knarrte wohl die Bank auf ungleichen Füßen. Die junge Stimme wuchs allmählich. Sie klang so traurig, daß Clotilde auf einmal zitterte, was sie wohl hören werde …

„Ach, was wollt ihr [??] ?“ – Luise sprach noch leise, aber doch zu laut; Clotilde verstand nun jedes Wort. – „Ach, warum quält ihr mich. Kann ich mich denn auflösen? Kann ich mich zerreißen? Laßt mich doch, wie ich bin. Bin ich denn nicht euer Kind? – Ihr könnt auseinander gehn, ach ja, – ich kann’s nicht; in meinem armen Kopf müßt ihr euch vertragen. Ihr müßt! Ja, ja, ja, ihr müßt! – Hab’ doch das alles von euch geerbt, ohne daß ihr mich fragtet. All die ,Teufel‘ und Nichtteufel, die haben in meinem Kopf miteinander gelebt all die Jahre her. Warum hetzt ihr sie mir gegeneinander auf? Was soll ich dann machen?“

Clotildens Kopf, bisher vorgestreckt, sank ihr allmählich gegen die Brust. Das Kind warf sich offenbar wieder auf der Bank herum; es kam ein Seufzer aus ihr, daß die Mutter zuckte. Eine Weile war’s dann still. „Dich kenn’ ich sehr gut,“ fing Luise plötzlich wieder an zu sprechen; „dich da in der Ecke! Du bist der ,Spielteufel‘, wie Vater dich nennt. Du bist von der Mutter. Bist du denn so schlimm? Ich hab’ immer nur gefunden, daß du lustig bist. Ach was, ich kann dich nicht so ohne weiteres hinausjagen … Aber die andern auch nicht. Also geh hin und vertrag’ dich! – Geh zu dem andern da, zum Ordnungsteufel, den Mutter nicht mag. Halt du nur Frieden mit ihm, dann seid ihr wohl auch beid’ nicht so schlecht, wie sie von euch sagen! – – Ach, Vater! Mutter! – Warum ist das so? – – Du bist der kleine Trotzteufel! der immer ,Hm‘ sagt; das mag sie auch nicht. Na ja, mit dir muß es wohl auch besser werden; – dich werd’ ich mit dem andern Bösewicht, dem Verkleidungsteufel, in die Ecke stellen, bis ihr besser werdet. Aber da steht dann und vertragt euch! Ich hab’ euch von Vater und Mutter, ihr müßt Frieden halten! Wenn ihr alle auseinander geht, kann ich nicht mehr leben!“

Großer Gott! dachte Clotilde erschüttert, plötzliche Thränen in den Augen, wie das Kind phantasiert! – Als hört’ ich mich selbst. Wenn ich als Mädchen, im Kummer über meine uneinigen Eltern, in halbem Fieber, in närrischen Phantasien – –

„Ach, Vater!“ fing das Kind wieder an. „Warum bist du mir doch weggefahren; ohne Hut und Mantel. Ich hab’ deinen Wagen rollen hören. Hast mir nicht einmal Adieu gesagt. Warst wohl wieder uneins mit ihr! – Nun scheint hier der Mond durch die Blätter; und ich lieg’ hier allein; und er fährt allein. Und im Saal machen sie nun wohl Musik, und Mutter steht als lebendes Bild … Ach, Vater! Mutter! – Ich bin auch nicht glücklich!“

Sie fing an, leise zu weinen. Hörbar war es doch.

Das ertrug Clotilde nicht; „sie weint!“ fuhr ihr aus der Kehle, wenn auch fast ohne Klang. Sie bewegte sich wohl auch.

Luise hatte das eine oder das andere gehört; ihr Weinen ward plötzlich still. Es schien, daß sie horchte. Dann stand sie auf und ging leise bis an den Eingang der Laube. „Ist da jemand?“ fragte sie, mit Angst in der Stimme. Nach einer Weile, etwas mutiger: „Wer ist da?“

Clotilde hatte im Schatten gestanden; sie trat nun rasch in den Mondschein vor, als käme sie eben gegangen, und auf Luise zu. „Ich bin’s,“ sagte sie.

Du?“ fragte das Kind verwundert, immer noch etwas verwirrt. Sie blieb in der Laubenöffnung stehn. „Wie kommst du hierher, Mutter?“

„Ich komm’ aus der Villa, Kind. Mein Kopf ist nicht gut. Ich wollte mich in der Luft – – Nein, bedaure mich nicht! Laß mich nur hier – bei dir!“

Sie ergriff Luisens Arm und drückte ihn mit zärtlicher Heftigkeit.

Luise verstand nicht, was das sollte. Befangen, mit bittenden Augen sagte sie: „Verzeih, Mutter –“

„Was?“

„Ich war da in der Laube, im Mondschein – und ich hab’ versäumt, dich mit anzuschauen.“

„Du hast nichts versäumt! Das lebende Bild ist noch hier, siehst du; noch hat es kein Mensch gesehn. – Anzuschauen … Eben schaust du mich ja an. Ganz mit – deines Vaters Blick …“

Auf einmal warf sich ihr das Kind an die Brust: „Verzeih’! ich kann nichts dafür!“

Vor Erschütterung stand Clotilde eine Weile wie erfroren da. Sie hielt Luise in den Armen, wagte sie aber nicht zu drücken. „Kind!“ stammelte sie endlich, sich allmählich fassend. „Was sprichst du nur? Ich versteh’ dich nicht. Wie können dir solche Worte, solche Gedanken kommen …“

Ihr wuchs der Mut, sie preßte sie leidenschaftlich an sich. „Ich hab’ dich ja über alles lieb, du närrisches Kind; so, so, wie du bist! ganz so, wie du bist!“ Sie sah ihr in das gute Gesicht, das eben so kummervoll geträumt, auf die schöne junge Stirn, die wie im Fieber des Grams phantasiert hatte; mit beiden Händen faßte sie den Kopf, streichelte ihn, küßte ihn. „Ach, dieser arme Kopf – mit allem, was in ihm ist – laß ihn so, Luise. Er soll Frieden haben …“

Luise starrte die Mutter betroffen an; hatte die etwas gehört? – Clotilde machte ihre Uebereilung geschwind wieder gut. „Wenn ich dir vorhin weh gethan hätte, mein’ ich; bei unserm Gespräch vor dem Haus. Als ich mit dir schalt … Ach, du bist mein gutes Kind. Ich hab’ dich lieb, wie du bist!“

An die Mutter angeschmiegt, vor Glück lächelnd, drückte das Mädchen die Augen zu. „O,“ sagte sie leise, „wie thut das gut. – Daß du mir das jetzt sagst – grade jetzt – o wie thut das gut. Wenn du wüßtest, Mutter …“

Clotilde antwortete nicht und drückte sie nur an ihre Brust.

„Ach, laß mich noch ’ne Weile so …“

„Ja, ja, ja,“ hauchte Clotilde ihr an die Wange hin. „Du hast recht: so ist’s gut!“ – Sie beugte den Kopf zurück und betrachtete das junge Gesicht. Wie sie ihm gleicht, dachte sie; und doch ein Mädchengesicht. – Wie wunderbar ist die Welt gemacht! – – Und ihre Mondscheinphantasien – darin mein, mein Kind. Ja, doch auch mein Kind! – Eine gute Mischung …

Sie küßte das dunkle Haar, die lichte Stirn. Luise nahm der Mutter Hand und drückte die heißen Lippen darauf.

Ach, dachte Clotilde, so eine gute Mischung sollte auch die Ehe sein; Frieden und Eintracht, wie in diesem jungen Kopf. – In einem jähen, hoffnungslosen Schmerzgefühl ließ sie das Kind aus den Armen. – Vorbei! Vorbei! Ach, das kommt nicht wieder!


10.

Auf dem schattigen Weg von der Villa her tauchten farbige Lichter auf; Stimmen und Schritte ließen sich hören, ein ganzer Zug kam heran. Es fehlte keiner von der lustigen Gesellschaft. Die Bowle hatte sie angeheitert, man konnte es den Stimmen abmerken und auf den Gesichtern sehn. Morland ging voran, mit einer der älteren Damen; Ellenberger und ein paar junge Herren trugen bunte Papierlaternen, in denen die Lichter brannten. Marwitz hatte einen Hut auf dem Kopf, die andern waren unbedeckt. „Lebendes Bild im Mondschein,“ rief Morland, der offenbar nicht zu wenig getrunken hatte, wenn auch noch nicht zu viel: „Mutter und Kind!“

„Wir hielten es nicht länger aus, gnädige Frau,“ sagte Ellenberger. „Da das ‚Bild‘ noch immer nicht kommt, so gehn wir zum Bild!“

Fanny drängte sich vor: „Wir mußten sehen, hören. Na, du arme Kleine, wie geht’s?“

„Danke,“ antwortete Clotilde, die sich wie von einer Schar von Bacchanten überfallen fühlte. „Besser. Sehr viel besser.“

„Besser, sehr viel besser,“ sprach Fanny ihr nach. Dann

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0602.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)